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Demokratie funktioniert nur deshalb, weil Leute in der Pflicht sind, sich eine Meinung zu bilden.
Kim Wortelkamp
Von Leipzig in den Westerwald. Wir sprachen mit Kim Wortelkamp, quartier vier, über kreative Freiräume.
Heute zweifelt er aufgrund der politischen Entwicklung in Sachsen und der zunehmend investorengetriebenen Stadtentwicklung an dem Wirkungsort Leipzig. Wir trafen uns zu diesem Gespräch am Tag nach der Landtagswahl in Sachsen im September 2024.
Was hat dich dazu bewogen, damals nach Leipzig zu kommen?
Wir haben quartier vier, unser Büro für Architektur, Landschaftsarchitektur, Stadt- und Regionalentwicklung, hier gegründet. Meine Büropartner Claudia Siebeck, Hauke Herberg und ich haben alle in Dresden studiert. Zusammen sind wir quartier vier.
1991 war Dresden für mich aus dem Westen kommend sehr neu und ausgesprochen spannend. Und es war in der Neustadt auch sehr lebendig und quirlig, aber das hat sich dann zunehmend gelegt.
Was hat euch angezogen, was machte die Stadt besonders?
Wir wollten im Osten bleiben und kamen im Jahr 2000 nach Leipzig und da wir alle im Zentrum wohnten, wurde die Barcelona, eine Bar in der Nähe, schnell unser zweites Wohnzimmer. Alles, was Leipzig ausmachte, viele junge Leute, die sich selbstständig machten und mit eigenen Projekten die Stadt mitprägten, zog uns an, es wirkte wie eine sehr junge und dynamische Stadt im Um- und Aufbruch und das haben wir genossen.
Wir fanden hier Voraussetzungen, die es uns sehr leicht gemacht haben. Die Möglichkeit, Leerstände mit neuen Inhalten zu füllen und Freiräume zu gestalten – nicht nur physisch, sondern auch durch Netzwerke und Gemeinschaften. Und diese Potentiale der Stadt haben sich sehr viele Leute geteilt. Wir sanierten unser Büro selbst, zahlten wenig Miete und konnten uns entfalten.

Hast du Leipzig damals auch so empfunden, dass der Raum nicht so reguliert war?
Ja, wir konnten damals Räume frei programmieren, dass dadurch Impulse gesetzt werden konnten und hatten das Glück, dass wir immer schon interessante Aufträge bekamen, an denen wir einen überwiegend großen Anteil an der Mitentwicklung hatten.
Zum Beispiel?
Wir haben zusammen mit dem Künstler Thilo Schulz den Nikolaikirchplatz als einen der wichtigen Orte der friedlichen Revolution gestaltet. Das ist die Lichtinstallation im Nikolaikirchhof in Leipzig, die leider nicht entsprechend instand gehalten wurde - sie ist nun über 20 Jahre alt.
Die Lichtinstallation - du meinst die Pflastersteine?
Ja genau, die nach und nach aufleuchtenden Pflastersteine in den Abendstunden, eine Metapher für die immer größer werdende Versammlung an den Montagabenden. Aufträge, die nicht unbedingt auf Bereicherung ausgelegt sind, trotzdem sehr bereichernd waren und die den Grundstein für die weitere Entwicklung des Büros legten.
Nach den Wahlergebnissen frage ich mich, was mich hier noch hält. Ich kann das hier in keiner Weise als meine politische Heimat bezeichnen.
Wie reagierte dein Umfeld im Westen auf deinen Umzug nach Leipzig und die Entscheidung, dort zu leben?
In den 1990er Jahren fragten viele: »Warum nach Dunkeldeutschland?«. Es begegnete mir viel Unverständnis, ich hatte wenig Verständnis für die mangelnde Neugier. Mit der Migrationswelle 2015 kam die Frage wieder.
Was war deine Antwort auf die Frage?
Meine Antwort 2015 war : »Wenn ich jetzt gehe, hilft das niemandem«.
Denkst du heute anders?
Ja, nach den Wahlergebnissen frage ich mich, was mich hier noch hält. Ich kann das hier in keiner Weise als meine politische Heimat bezeichnen. Und dazu ist Leipzig weder politisch noch beruflich so spannend wie früher. Die AfD-Wahlerfolge erschweren das gesellschaftliche Klima, und beruflich ist der Bedarf an kreativer Stadtentwicklung geringer. Auch die Stadtsanierung ist im Wesentlichen durch. Wenn ich mir angucke, was jetzt hier gebaut wird, weiß ich, dass ich dafür nicht gebraucht werde, weil es nicht das ist, was wir für richtig halten und bauen wollen.
Was stört dich an den Wahlergebnissen?
Ich verstehe nicht, warum aus Protest oder Frustration eine rechtsextreme Partei gewählt wird, die die wahlauslösenden Probleme nur verschärft. Unternehmen und Kulturschaffende ziehen sich zurück, werden vergrault, was die Situation weiter verschlechtert.
Vielleicht, weil die Leute es nicht wahrhaben wollen, dass die Partei rechtsextrem ist. Ich versuche das nicht zu argumentieren oder zu entschuldigen, mir geht es ja wie dir in deinem Unverständnis. Ich bin nur nicht so sehr darüber verwundert, dass die Leute nicht differenzieren und nachdenken.
Dann funktioniert unsere Demokratie nicht, Demokratie funktioniert deshalb, weil Leute in der Pflicht sind, sich eine Meinung zu bilden. Und wenn sie sich die nicht bilden, dann kann Demokratie auch nicht funktionieren.
Die Freiräume, die Gestaltung ermöglichten – sei es in der Architektur, in Prozessen oder in Gemeinschaften – werden immer weniger.
An dem Punkt sind wir jetzt.
Ja, das macht es auch so schwer begreifbar, weil es rational nicht zu erklären ist. Dem großen Durchschnitt der Leute dürfte es wesentlich besser gehen. Man darf mehr sagen, auch, wenn das Argument immer das Gegenteil behauptet. Es geht so weit, dass das, was unsagbar schien, sagbar geworden ist. Das geht an die Grenzen der Toleranz, unserer Verfassung und Rechtssprechung.
Überlegst du, Leipzig zu verlassen?
Ich habe meinen Familiensitz im Westen und könnte meinen Wohnsitz dorthin verlegen. Die Leipziger Freiräume, die Gestaltung ermöglichten – sei es in der Architektur, in Prozessen oder in Gemeinschaften, werden immer weniger. Die Entwicklung, gerade auch im Kulturbereich, lässt wenig Raum für diese Art des Wirkens. Leipzig ist für mich weniger reizvoll geworden, beruflich und gesellschaftlich.
Du bist in einer sehr glücklichen Situation. Wenn du jetzt gehst, weil Leipzig nicht mehr so viele Möglichkeiten hat, wie vor 20 Jahren. Ist das dann nicht etwas, was du auch noch mitnimmst?
Berechtigte Frage. Und ja, mir fällt der Gedanke schwer, weil ich Leipzig viel zu verdanken habe. Dennoch fühle ich mich vergrault.
Und deine frühere Antwort, dass du nicht auch noch gehen möchtest?
Das habe ich lange getan, aber mit zunehmendem Alter frage ich mich, ob ich diese Energie noch aufbringen möchte. Ich sehe es auch als legitimen Schritt, durch eine Verlegung des Wohnsitz' den neuen politischen Realitäten zu begegnen.
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Lass uns noch über die Projekte sprechen, die ihr hier umgesetzt habt, zum Beispiel die Halle 14. Für diejenigen, die das nicht kennen, kannst du kurz erklären, was die Halle 14 ist?
2006 wurden wir von der Stiftung Federkiel beauftragt, ein Besucherzentrum in einer der Hallen der Baumwollspinnerei zu entwerfen. Damals war noch unklar, was dort entstehen würde – ein Kunstzentrum war das Ziel. Mit Thilo Schulz planten wir ein Konzept, das zunächst Arbeitsplätze, Kunstvermittlungsräume und eine Lounge für Veranstaltungen vorsah. Unser Ansatz, den wir »Luxus der Leere« in Anlehnung an den Buchtitel von Wolfgang Kil nannten, prägte das weitere Nutzungskonzept für die gesamte Halle. Über viele Jahre hinweg haben wir die Halle Schritt für Schritt saniert und erweitert.
Du sprichst oft von »Wir« – wen meinst du damit?
»Wir« bezieht sich nicht nur auf quartier vier, unser Büro, sondern auf ein großes Team: die Stiftung Federkiel, die künstlerische Leitung von Frank Motz, die vielen Beteiligten der Halle 14 sowie die Baumwollspinnerei selbst. Es war ein kollektives Projekt, das von vielen getragen wurde.
Wir denken Räume nie nur physisch, sondern auch in ihrer Wirkung auf Nachbarschaft und Gemeinschaft.
Was ist die Halle heute?
Heute ist die Halle 14 ein veritabler Kunstverein mit 10.000 Quadratmetern Fläche. Es gibt Ateliers, Werkstätten, eine Bibliothek, Räume für Kunstvermittlung und vor allem große Ausstellungsräume, die kuratorisch flexibel bespielt werden können. Innen wirkt sie fast wie ein kleiner Städtebau: Zwei Kuben stehen wie Häuser in der Halle, mit einem Platz dazwischen. Es ist ein Raum für Begegnung und Gemeinschaft.
Auch ein Beispiel für den Freiraum, von dem du eingangs sprachst?
Ja, wir denken Räume nie nur physisch, sondern auch in ihrer Wirkung auf Nachbarschaft und Gemeinschaft. Unsere Planungen setzen Impulse und fördern Begegnungen. So entstehen nicht nur funktionale Gebäude, sondern auch soziale Räume, die Austausch ermöglichen und idealerweise provozieren.
Im Gegensatz zur aktuellen Stadtentwicklung, die man gut am Leipziger Hafen oder dem Brauereigelände C.W. Naumann sehen kann. Dort hat keiner an gemeinschaftliche Räume gedacht und vermutlich ist das etwas, was AfD-Wählerinnen* auch nicht machen?
Die steigenden Immobilienpreise haben viele kreative Entwicklungen erstickt. Stattdessen sehen wir monotone Investorenarchitektur – Gebäude, die weder durchmischt noch zukunftsfähig sind, das sind die städtebaulichen Missstände von morgen. Das ist das eine, das andere sind die Wahlergebnisse, die dazukommen. Beides lässt mich eben am Standort Leipzig zweifeln.
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Wie beeinflussen dich die politischen Veränderungen in Sachsen?
Die Wahlerfolge der AfD machen mir Angst. Dass selbst junge Menschen diese Partei wählen, erschüttert mich. Diese Entwicklungen fördern Misstrauen und ein Klima der Ausgrenzung. Es fällt mir schwer, mich mit einem Ort zu identifizieren, der sich so verändert hat.
Du bist in der privilegierten Situation, dass du weggehen könntest.
Das können nicht alle, das ist richtig.
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Der Park ist mein privater Gestaltungsfreiraum. Dort schaffe ich Gemeinschaften und Freiräume, wie ich sie in Leipzig zunehmend vermisse.
Ich würde gerne noch mit dir über die Skulpturenlandschaft im Westerwald sprechen. Ein Projekt, das dein Vater einst gestartet hat und das du jetzt übernommen hast. Was macht Im Tal so besonders?
Er wurde 1986 von meinem Vater gegründet und verbindet Kunst und Natur in einer einzigartigen Weise. Jede Arbeit entsteht für den Ort und fügt sich in ein übergeordnetes Landschaftskonzept ein. Über 50 Künstler haben dort Werke installiert. Es ist eine Gemeinschaft, die autonom arbeitet und dennoch demokratisch im Zusammenspiel agiert.
Das ist, glaube ich, etwas ganz Seltenes. Und etwas Urdemokratisches. Das schließt an eingangs Gesagtes an, dass man sich seine Meinung eben auch bilden muss, um sie dann vertreten zu können oder um sich vertreten zu lassen in seiner Meinung. Das Prinzip der Demokratie. Es wird in der Skulpturenlandschaft sichtbar, dass da eine Gemeinschaft von vielen Gestaltenden entstanden ist, die ihre jeweils autonomen, werkimmanenten Beiträge umgesetzt haben und eine übergeordnete Gestaltung durch Landschaftsarchitekten. Und man hat eine permanente Veränderung und kann das immer weiter fortschreiben.
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Wie bleibt der Park lebendig?
Die Landschaft verändert sich ständig. Eingriffe wie das Zurücknehmen von Bäumen schaffen neue Sichtachsen und Raumgefüge. Es ist ein generationsübergreifendes Projekt, das kontinuierlich wächst. Wir haben eine Stiftung gegründet, um den Park langfristig zu sichern, gegebenenfalls auch unabhängig von der Familie. Eine unternehmerische Aufgabe.
Um jetzt doch nochmal den Bogen zur politischen Situation zu schlagen, hast du das Gefühl, Kunst muss heute anders sein als noch vor 40 Jahren?
Nein, die kann gerade so bleiben, wie sie ist. Denn Kunst verändert sich ja stets. Kunst ist eine Konfrontation mit dem Fremden und wenn ich mich auf das Fremde einlasse, dann erkennst du im Fremden auch Vertrautes, weil natürlich alles in unserem Hirn über Bilder, Sprach- und Bildkodierungen funktioniert.
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Wie beeinflusst dich der Park im Vergleich zu Leipzig?
Der Park, die Skulpturenlandschaft ist ein großer Gestaltungsfreiraum. Dort schaffe ich gemeinsames Handeln und Freiräume, wie ich sie in Leipzig zunehmend vermisse. Da stelle ich mir die Frage, wie kann ein so aufgeladener Ort wie Im Tal, der durch viele gestaltet wurde und durch viele geworden ist, nach außen wirken? Das hat vor allem mit dem zugrunde liegenden politischen Verständnis von der Verantwortung des Einzelnen zu tun. Gerade wenn er dann auch in der Lage ist, das zu tun. Das ist nicht allein eine wirtschaftliche Kompetenz, man muss das Wollen dazu haben, die Verantwortung dafür fühlen und dann natürlich auch die Kraft haben, das zu machen. Auch für unser Büro quartier vier gesprochen ist es das, was wir versuchen. Wir versuchen Raumangebote, Architekturen und Freiräume zu schaffen, die Handlungen und Begegnungen provozieren. Damit entsteht Wirkungsraum und es entsteht Austausch und damit habe ich den ersten Grundstein für ein Miteinander gelegt.
* Diese Schreibweise folgt dem Konzept von Luise Pusch
Info
Kim Wortelkamp wurde 1970 in Frankenthal, Rheinland-Pfalz geboren. Er absolvierte von 1991 bis 1998 ein Studium der Landschaftsarchitektur an der Technischen Universität Dresden, das er parallel von 1995 bis 1998 um ein Architekturstudium ergänzte. Sein Diplom in Landschaftsarchitektur am Institut für Freiraumplanung wurde mit dem Landschaftsarchitekturpreis der TU Dresden ausgezeichnet. Nach dem Beginn seiner Selbstständigkeit im Jahr 1999 gründete er im Jahr 2000 quartier vier und 2004 quartier vier.design. Sein vielfältiges Engagement zeigt sich in verschiedenen Vorstandspositionen: Seit 2014 ist er Vorstandsmitglied und seit 2019 1. Vorsitzender bei HALLE14 e.V., einem Zentrum für zeitgenössische Kunst. Zudem fungiert er als geschäftsführender Vorstand der Skulpturenlandschaft im Tal, ist seit 2016 Geschäftsführer der wachsgut UG&Co KG und bekleidet seit 2019 die Position des 2. Vorsitzenden des brodverein.e.V.Credits
- Das Interview führte Petra Mattheis
- Fotos von Regentaucher