Christina Weiß in ihrem Garten in Leipzig Lindenau

Die Stadt ist nicht abstrakt, die Stadt sind wir! Alle, die wir hier in Leipzig wohnen und arbeiten.

Christina Weiß

Christina Weiß ist Mitgründerin des Lindenauer Stadtteilvereins, der sich seit 2001 aktiv an der Gestaltung von Lindenau beteiligt. Ihr ehrenamtliches Engagement wurde 2008 mit dem Leipziger Agenda-Preis geehrt.

Ihr Küchentisch wurde uns als der Ursprung vieler in Lindenau entwickelter Projekte genannt, die bis heute den Leipziger Westen prägen. So werden wir auch gleich in ein neues Projekt reingerissen, noch bevor wir die erste Frage stellen können. Christina spricht unglaublich schnell, ich fürchte schon das spätere Reinschreiben unseres Interviews.

Christina Weiß sitzt an einem Tisch im Garten des Hauses in dem sie lebt.
Detailaufname von blühenden Pflanzen im Garten von Christina Weiß in Leipzig Lindenau.

Wir haben gerade eine Chronik zur Georg-Schwarz-Straße im Umlauf. Das Buch ist etwa einen Meter hoch und aufgeschlagen siebzig Zentimeter breit und die Leute schreiben alles auf, was ihnen so zur Straße einfällt oder was sie erlebt haben. Teilweise ist die Schrift so klein, dass kein Zentimeter mehr Luft ist. Eigentlich sollte jeder noch Platz für ein kleines Bild von sich lassen, aber manche schreiben alles voll. Eine Frau sagte auch, dass die Doppelseite einfach nicht ausreicht. Das ist ein sehr spannendes Projekt - mal schauen, was am Ende dann herauskommt.

Die Seiten des Buches sind einen Meter hoch?
Ich hol das mal.

Wow, das ist ja riesig, das Buch.
Das ist jetzt wirklich ein Zeitdokument. Wir haben ein ähnliches Projekt schon einmal vor elf Jahren mit Lindenau durchgeführt. Dieses Buch hier wog schon fünf Kilo noch bevor irgendetwas hinein geklebt wurde. Und es geht nur um die Georg-Schwarz-Straße.

Wie lange darf sich denn jeder Zeit nehmen, die Seiten zu füllen?
Jeder darf das Buch sechs Tage lang behalten. Dann wird es wieder abgeholt. Damit muss jeder auskommen, denn am Ende des Jahres möchten wir 52 Einträge haben, einen für jede Woche. Ihr könnt gerne mitmachen, wenn ihr etwas über die Georg-Schwarz-Straße erzählen möchtet. Leider haben wir zu wenig über die Straße zu erzählen.

Hier standen noch die Ruinen. Im Hinterhof stand ein Fabrikgebäude mit einem eingebrochenen Asbestdach und fünf Meter hohen Müllhalden davor.
Christina Weiß vor dem Zaun des Hauses in Leipzig Lindenau in dem sie lebt.
Christina Weiß am Gartenzaun des Hauses, in dem sie lebt. Wer mithalf, das Wohn- und Gartenprojekt in Leipzig Lindenau umzusetzen, wurde als herausgeschnitzte Figur in den Zaunlatten verewigt.

Wie und wann bist du nach Leipzig gekommen?
Am 13. September 1997 sind wir in die Uhlandstraße gezogen. Wir haben von Anfang an in Lindenau gewohnt und sind nur innerhalb des Viertels umgezogen. Das „Wie“ war sehr abenteuerlich. Mein Mann hatte sich beworben und dann in relativ kurzer Zeit eine Zusage bekommen - wobei wir jedoch nicht wussten, wohin in Sachsen es uns verschlagen würde. Es hätte irgendeine kleine Stadt auf dem Land sein können, es ist aber dann Leipzig geworden.

Von der Uhlandstraße sind wir an den Lindenauer Markt gezogen. Interimsmäßig, wie wir damals dachten. Wir blieben dann aber fünf Jahre dort. Wir wussten damals schon, dass es uns nicht wichtig ist, ob wir zur Miete oder in einer Eigentumswohnung leben. Wichtiger sind uns die Nachbarn und die damit verbundenen sozialen Strukturen. Das Haus, in dem wir jetzt wohnen, gehörte damals dem Bundesvermögensamt.

Hier standen noch die Ruinen. Im Hinterhof stand ein Fabrikgebäude mit einem eingebrochenen Asbestdach und fünf Meter hohen Müllhalden davor. Ich habe mir das angeschaut und gesagt: Das ist mein Garten. Wir reißen das alles ab, machen eine Wiese daraus und in das Vorderhaus ziehen wir ein. Bis auf Udo Becker, einen Projektleiter der Wohnungsgenossenschaft „Pro Leipzig eG“ haben mir alle einen Vogel gezeigt.

In den 90er-Jahren hatte sich die Genossenschaft gegründet, damit einzelne Handwerker noch Aufträge bekommen konnten und sie haben Häuser aufgekauft, damit sie ihre Leute beschäftigen konnten. Geplant war das nicht, aber es hatte sich eben so entwickelt. Ich hatte den Bauleiter auf einem Selbstnutzertreffen kennengelernt und er war gleich an einer Zusammenarbeit interessiert. Und dann habe ich einen Sachbearbeiter gefunden im Amt für Stadtentwicklung und Wohnungsförderung (ASW). Er fand die Idee, eine große Fläche zu schaffen, auf der man sich treffen kann, ebenfalls klasse und stellte das Projekt dem damaligen Baubürgermeister vor.

Wir wollten nicht zwischen Mauern leben, in denen man trennt zwischen meins und deins. Wir wollten eine Fläche schaffen, die von den Leuten bewirtschaftet wird, die hier leben. Wir haben auch keinen Hausmeister, sondern kümmern uns selbst um alles. Das funktioniert.

Wieviele Leute wart ihr zu Beginn?
Wir waren eine kleine Gruppe, die eine zweiwöchige Fahrradtour unternommen hat, um sich näher kennenzulernen. Wir wollten ja gemeinsam als Nachbarn leben. Der erste, der sagte, er mache mit, war Rainer Müller. Wir haben den Baubürgermeister damals davon überzeugt, dass man Stadtumbau auch mal mit anderen Mitteln angehen kann.

Wieviele Parteien gibt es denn?
Fünf. Und alle wohnen noch immer hier im Haus.

Wenn man damals erzählte, man wohne in Lindenau, hat man meist irritierte Blicke erhalten. Hier wohnte man eigentlich nicht.

Und der Garten war euer erstes Projekt?
Die Blockentwicklung – wir haben ja auch parallel mit den anderen Nachbareigentümern Kontakt aufgenommen und erklärt, was wir vorhaben. Später kamen auch immer Leute vorbei, die wissen wollten, ob hier ein Kinderheim ist, weil bei uns im Garten so viele Kinder rumhüpften. Wir hatten damals 13 eigene Kinder im Haus und dann noch die, die von den Nachbarn kamen.

Im Zuge der Quartiersaufwertung hatten wir eine Gestattungsvereinbarung mit dem Amt getroffen, woraufhin der Garten mit öffentlichen Mitteln geräumt wurde und zu einer temporären, öffentlichen Grünfläche wurde. Eine neue Form der Aufwertung war auch dringend nötig. Wenn man damals erzählte, man wohne in Lindenau, hat man meist irritierte Blicke erhalten. Hier wohnte man eigentlich nicht.

Der Garten war das erste Stadtumbau-Projekt mit riesengroßen Abbrüchen, das in diesem Straßenteil eine positive Außenwirkung hatte. Vieles von dem, was seitdem entstanden ist – die Reihenhäuser nebenan – das kam nur, weil wir zunächst dieses Projekt umgesetzt haben. Der Geschäftsführer der Genossenschaft war angetan von der Umsetzung und fragte uns, ob wir uns auch der Josephstraße annehmen wollten, die damals ein Drogenumschlagplatz war. Mehrere Wochen lagen geschlachtete Hammel auf der Straße und dort, wo jetzt der Buchkindergarten ist, stand auf der Straße lange eine ausgebrannte Ponykutsche.

Hauptsache Vibrations, gutes Essen und Menschen, die etwas tun wollten für ihre Stadt. Das war uns immer wichtig.
Detailaufnahme einer handgeschnitzten Figur im Zaun vor dem Haus in der Roßmarktstraße in Leipzig Lindenau.
Detailaufnahme einer handgeschnitzten Figur im Zaun vor dem Haus in der Roßmarktstraße in Leipzig Lindenau.
Detailaufnahme einer handgeschnitzten Figur im Zaun vor dem Haus in der Roßmarktstraße in Leipzig Lindenau.
Detailaufnahme einer handgeschnitzten Figur im Zaun vor dem Haus in der Roßmarktstraße in Leipzig Lindenau.
Detailaufnahme einer handgeschnitzten Figur im Zaun vor dem Haus in der Roßmarktstraße in Leipzig Lindenau.

Wie begann das Projekt Josephstraße?
Zuallererst haben wir 2003 nach den Eigentümern Ausschau gehalten. Der Lindenauer Stadtteilverein hatte eine Stelle „Wir für Leipzig“ über die Villa genehmigt bekommen, durch die wir dreißig Stunden pro Wochen an dem Projekt arbeiten konnten. Auch das Quartiersmanagement Leipziger Westen mit Tobias Habermann hat uns für den Start sehr unterstützt. Ostern 2004 haben wir ein internationales Baulager mit Studenten aus vielen Ländern organisiert, welche die Räumung begonnen haben. Wir hatten eine 6.500 m2 große Fläche zu vergeben, um die sich verbindlich gekümmert werden musste. Zu dieser Zeit hatten wir einen Praktikanten der Leipziger Volkszeitung täglich zu Gast, der täglich über das Baulager berichtete und somit Werbung für das Projekt machte.

Nach dem Sommer hatten wir dann alle Flächen vergeben und mussten sogar Leuten absagen. Zu dieser Zeit wurde auch der Verein Haushalten gegründet. Wir wussten da noch gar nicht so genau, wohin das alles gehen sollte. Hauptsache „Vibrations“, gutes Essen und Menschen, die etwas tun wollten für ihre Stadt. Das war uns immer wichtig.

War das der Beginn der Nachbarschaftgärten?
Ja genau. Da sind ja später noch Flächen dazu gekommen.

Was genau ist der Lindenauer Stadtteilverein?
Wir haben den Verein 2001 gegründet, als wir noch am Lindenauer Markt wohnten. Zu dieser Zeit ist der Platz saniert worden. Ziemlich unglücklich, wie wir fanden. Das wir mit unserer Meinung nicht falsch lagen, zeigen die aktuellen Diskussionen, ihn nochmal anzufassen. Wir haben damals den Behindertenverband kontaktiert, da wir uns wunderten, wie etwas, das neu geplant und gebaut wird, nicht barrierefrei sein kann. Es wurde dann alles bei uns vor dem Haus wieder aufgerissen, die Abwasserschächte höher gelegt und der Hauszugang wieder barrierefrei gemacht wie vor dem Bau. Das war der Moment an dem wir gemerkt haben, dass man etwas erreichen kann, wenn man sich kümmert.

Auch ist es etwas anderes, wenn man im Namen des Lindenauer Stadtteilvereins mit den Ämtern kommuniziert statt als Privatperson. Plötzlich war die Roßmarktstraße auf diese Weise auch ein wohnungspolitisches Projekt, in dem es um familienfreundliches Wohnen ging. Obwohl die selben zwei Personen miteinander gesprochen haben, war das überhaupt kein Problem mehr. Wir wurden von den Ämtern ernst genommen, obwohl es ja auch nur privates Engagement war. Ein Verein wirkt Wunder!

Es müssen die Menschen zusammenkommen, die Lust haben, etwas gemeinsam zu gestalten.

Eurer erstes Projekt war das Haus hier, mit dem Garten als gemeinschaftliche Fläche. Wie können wir uns das konkret vorstellen. Ihr sitzt gemeinsam an diesem großen Tisch hier in deiner Küche und habt eine Idee. Wie geht es dann weiter? Wie nimmt ein Projekt Formen an?

Wichtig ist unsere selbstverständliche Haltung der Verwaltung gegenüber. Die Stadt ist nicht abstrakt, die Stadt sind wir. Alle, die wir hier in Leipzig wohnen und arbeiten. Wir geben die Richtung vor und wir müssen uns einbringen, damit sich etwas bewegt. Insofern ist ein Tisch wichtig, an den man sich setzen und austauschen kann. Es müssen die Menschen zusammenkommen, die Lust haben, etwas gemeinsam zu gestalten.

Das Hoftor des Hauses in der Roßmarktstraße in Leipzig Lindenau in dem Christina Weiß lebt.
Das Hoftor des Hauses in der Roßmarktstraße in Leipzig Lindenau in dem Christina Weiß lebt.
An diesem Tisch wurden zahlreiche Projekte ins Leben gerufen, die bis heute den Leipziger Westen prägen.
An diesem Tisch wurden zahlreiche Projekte ins Leben gerufen, die bis heute den Leipziger Westen prägen.

In der Josephstraße habt ihr Leipzigs erstes Strohballenhaus gebaut, was genau hat es damit auf sich?
Das Strohballenhaus entstand aus einer Initiative von Jörg Prosch, der sich für alternative Bauweisen interessiert. In der Altmark gibt es im Ökodorf Siebenlinden sehr aktive Kümmerer, die den Bau von Strohballenhäusern vorantreiben. Daran war Jörg ebenfalls als Bauhelfer beteiligt und und ich wollte mir das Projekt mal anschauen. Auf der Rückfahrt war uns schon klar, dass wir das erste Strohballenhaus Leipzigs bauen wollten. Wir hatten gerade Projektgelder generiert, für einen Unterstand von Gartengeräten für die Nachbarschaftsgärten.

Wir hatten 3.500 Euro zur Verfügung und ich habe dann herumtelefoniert um jemanden zu finden, der das Haus architektonisch umsetzen kann. Wir haben einen Statiker gefunden, der das Projekt so verrückt fand, dass er mitmachen wollte. Das Fundament besteht aus Materialresten von Betonmischern. Wenn noch Restmaterial in den Lastern vorhanden war, haben die das zu uns gebracht, bevor es entsorgt wird und ein Nachbar hat dann noch 500 Euro gespendet, um die Bodenplatte im Ganzen zu gießen. Es gab damals ein Jugendprojekt Wabe e.V., die berufsvorbereitende Kurse mit Jugendlichen veranstalten. Die haben im Endeffekt das Haus mit gebaut, so wie es zu sehen ist. Die Türen haben wir bei Ebay ersteigert und fertig war das Haus.

Die ersten Schweine rannten öfter davon und die Nachbarn riefen an, dass Ferkel wieder über die Straße galoppierten.

So ging das auch mit den Schweinen. Wir hatten Diskussionen mit dem Veterinäramt, die eine Haltung nicht zulassen wollten, da dies eine Großstadt sei. Wir sagten Ihnen, uns gehe es nicht darum zu erfahren was nicht geht, sondern wir möchten wissen, was möglich ist. Das Amt hat dann zwei Vertreterinnen geschickt, die sich einen Eindruck von dem Gelände machen sollten. Diese waren dann so entzückt davon, wie das hier aussieht, dass sie uns eine Genehmigung erteilten. Stallhaltung mit gelegentlichen Auslauf. Und plötzlich ging es!

Gibt es die Schweine noch?
Nee, die wurden ja im Lehmofen zubereitet. Aber es kamen immer mal wieder neue hinzu. Die ersten Schweine rannten öfter davon und die Nachbarn riefen an, dass Ferkel wieder über die Straße galoppierten. Wir haben dann noch ein Mutterschwein mit zehn Ferkeln übernommen, die dann auch kurze Zeit in den Gärten waren. Aber nach zwei Monaten werden sie geschlechtsreif und daher wollten wir sie schnell wieder abgeben. In der Leipziger Volkszeitung gab es dann einen Artikel mit der Überschrift „Wundersame Schweinevermehrung”. Das verbreitete sich recht schnell, bis in den Harz wurde darüber geschrieben. Alle wollten die wundersame Schweinevermehrung sehen und so sind die abzugebenden Schweine auch weit weggegeben worden.

Du hast Archäologie und Romanistik studiert?
Ja, in Bonn und Paris.

Wie kam es dazu, dass du dich so für Stadtentwicklung interessierst?
Seit ich fünfzehn bin, habe ich Jugendgruppen geleitet und ausgebildet. Ich habe auch schon während des Studiums Stattreisen begleitet und dort die Kinderführungen ausgearbeitet. Auch als ich in Paris und Athen lebte, habe ich Kontakt zu lokalen Jugendgruppen gesucht und einen Austausch organisiert. Ich mache immer dort etwas, wo ich bin. Das ist auch der Grund, dass ich mich für Lindenau so engagiere. Wenn ich irgendwo anders hin ziehen würde, dann würde ich dort das Gleiche tun.

Hat sich in den letzten 15 Jahren die Art deines Engagements verändert? Ist das leichter geworden, war es nie schwer? Ich bewundere ja deine Geduld und Hartnäckigkeit, ich frage mich immer, wie man das durchhält. Man gerät doch schon an viele Wände und braucht wohl sehr viel Geduld.
Ja, das fragen viele. Und sie fragen auch, ob ich das denn dürfe. Das ist sehr lustig. Ich habe relativ wenig Respekt vor Amt und Würden, hingegen sehr vor Persönlichkeit. Hauptamtliche sind in der Definition der kommunalen Selbstverwaltung doch gerade dafür zuständig das mit umzusetzen, was die Bürger möchten. Immer mehr Quartiersmanagements werden dafür zur Unterstützung eingesetzt.

Und dir ist es dann auch gleich, wie lange es braucht?
Ja, es ist gut, wenn sich etwas bewegt. Es kann ja nur besser werden. Und als wir hier vor 15 Jahren anfingen, war das noch viel deutlicher zu sehen.

Du hast im Westen und Osten von Deutschland mit Ämtern gearbeitet, gibt es Unterschiede?
Die Menschen, mit denen wir hier in Lindenau zu tun hatten, waren zu großen Teilen entweder Kirchenleute oder kamen aus DDR-Umweltbewegungen oder kamen von außerhalb. Das haben wir irgendwann mal festgestellt. Es steht und fällt vieles mit den beteiligten Personen. Man muss einen Draht zueinander finden. Manchmal ist der Hauptverantwortliche einer Abteilung in Urlaub und mit dessen Vertreter bekommt man plötzlich das umgesetzt, was zuvor lange aufgeschoben wurde. Auch die Josephstraße kam auf Stadtverwaltungsseite erst ins Rollen, als es neue Zuständigkeiten innerhalb der Verwaltung gab.

Wir leisten ehrenamtliche Arbeit, die über das hinausgeht, was die Verwaltung leisten kann.
Blick auf einen Sitzbereich im Garten von Christina Weiß.
Christina Weiß in ihrem Garten in Leipzig Lindenau.

Fühlst du dich denn von der Stadt genügend gewürdigt? Ihr habt ja doch eine ganze Menge hier bewegt. Die steigendenden Immobilienpreise gehen indirekt auch auf euer Engagement zurück, auf eure Projekte.
Das war ja auch so gedacht, wir wollten ja auch neuen Leuten Raum bieten. So wie der Stadtteil war, ist er aus sich selbst heraus nicht lebensfähig gewesen.

Und würdigt die Stadt das?
Ich habe die Ehrennadel und Ehrenurkunde der Stadt Leipzig erhalten. Und einen Agenda-Preis. Das ist schön und nett, aber was man eigentlich braucht, ist das Geld für die Finanzierung von Projekten. Wir leisten ehrenamtliche Arbeit, die über das hinausgeht, was die Verwaltung leisten kann. Das geht schon recht oft in Richtung Selbstausbeutung, zumal andere dafür bezahlt werden. Aber wir bewegen hier auf diese Art eben Dinge, die anderswo so nicht bewegt werden könnten.

Woraus ziehst du deine Energie?
Aus spannenden Leuten, denen ich dabei begegne. Wir machen seit 2003 vom 1. bis zum 23. Dezember jedes Jahr den lebendigen Adventskalender. Da triffst du auch immer nette Leute.

Was war das Kissenschlachtzimmer?
Wir haben Kissenschlachtaktien verkauft gegen ein genähtes Kissen. Du darfst im Kissenschlachtzimmer Kissenschlachten machen. Die Wurfeinheiten sind kleine Kissen, alle aus Baumwolle und waschbar. Du darfst nur mitmachen, wenn du selbst ein Kissen nähst. Wir hatten dann 1.500 Wurfeinheiten, die wir dann über mehrere Winter hinweg anboten. Das schlimmste ist der Lärmpegel. Das hältst du als Erwachsener kaum aus. Wichtig war, dass die Kinder etwas dazu beitragen und Flächen außerhalb der eigenen vier Wände genutzt werden konnten. Das war ein Winterspielplatz. Die kleinen Kindergärten haben es intensiv genutzt, weil sie oft zu wenig Platz haben. Nach einer Viertelstunde sind die Kinder klatschnass geschwitzt und heiser. Die sind dann richtig fertig, was ja auch der Sinn der Sache war.

Glaubst du, dass das was du hier in Leipzig bewegt hast, in einer anderen Stadt auch möglich wäre?
Vermutlich nicht, was die Flächen angeht. Das war ja für mich auch immer das einzigartige an HausHalten. Da können Menschen Räume belegen und sich austoben. Ich habe es immer einen Erwachsenenspielplatz genannt. Dass die Häuser dadurch bewirtschaftet werden und erhalten bleiben, ist ein schöner Nebeneffekt. Hier an diesem Tisch ist HausHalten ausgetüftelt worden, mit Kerstin Gall, Astrid Heck und mir. Und dann später auch gegründet.

Du sprichst von ergebnisoffenen Diskussionen und sagst, es könne nur besser werden. Gibt es eine Entwicklung hier im Viertel, die du nicht so positiv findest?
Das Schlimmste ist für mich Fantasielosigkeit. So wie am Lindenauer Hafen, wo man jetzt Reihenhaussiedlungen draufsetzen möchte. Fantasievoll ist dabei lediglich die Finanzierung über dieses revolvierende Modell. Hier wünsche ich mir eine Diskussion darüber, was wir eigentlich an städtebaulichem Raum benötigen, der nicht bebaut wird. Dafür ist es hier bei uns ja auch schon fast zu spät. Es stimmt ja nicht, dass es kein Geld gibt. Es ist immer nur die Frage, wofür es ausgegeben wird.

Ich halte nichts davon, Flächen zu besetzen wie die Wagenleute. Man kann immer nur darüber entscheiden, wofür man Verantwortung trägt. Ein Anspruchsdenken, wie es hier aktuell die Diskussion beherrscht, kann ich nicht nachvollziehen. Die hätten sich überlegen können, eine Fläche zu kaufen, die dann ihr Eigentum ist. Dann können sie 30 Wagen darauf stellen, ohne dass es ihnen jemand verbietet. Ein Platz in Connewitz funktioniert ja auch genau so. Auch die von uns bei den Ämtern angestoßene Diskussion zu den Nachbarschaftsgärten hätte weitergeführt werden können. Wenn man das nicht tut, darf man nicht erstaunt sein, dass eine Fläche die einem nicht gehört, verkauft wird und man gehen muss. Wir haben immer geschaut was geht, und nicht, was nicht geht.

Es geht ja zumeist um städtebauliche Entwicklung, aber ein Thema, das wir noch gar nicht angesprochen haben, ist Bildung. Täglich fallen in fast jeder Klasse Schulstunden aus aus Lehrermangel, auch wenn offiziell immer nur von 5 Prozent die Rede ist. Hier ist die Grundversorgung an entscheidender Stelle erschüttert und alle akzeptieren das scheinbar ebenso wie Streichungen an den Unis.

Leipzig muss bunt bleiben, wenn es sich treu bleiben will.

Wir haben hier immer noch zu viele Straßenzüge mit überwiegendem Anteil von Leuten, die von Transferleistungen leben, teilweise in der dritten Generation. Noch wohnen ja alle in Prachtaltbauten, auch wenn sie nicht auf hohem Niveau saniert sind. Es ist eine Lebensqualität, die sich hier momentan noch viele leisten können. Aber das wird so nicht bleiben und das hat auch mit Bildung und sich daraus ergebenden Perspektiven zu tun. Leipzig hat als Messestadt immer schon vom Zuzug profitiert. Es wird bald weiter wachsen. Da können wir über die Häuser und deren Erhalt diskutieren, das ist ein netter Nebeneffekt, aber das kann nicht alles bleiben. Es ist ja auch schön mit so vielen jungen Kreativen in einer Stadt zu leben, aber wir brauchen auch mehr fair bezahlte Arbeitsplätze. Nur so können Familien und kann die Stadt dauerhaft existieren. Leipzig lebt von diesem Mix: Das eine ermöglichen, aber das andere nicht lassen. Leipzig muss bunt bleiben, wenn es sich treu bleiben will.

Im Oktober 2015 trafen wir uns nochmals mit Christina Weiß, anlässlich einer Dokumentation zur Entwicklung des Bildhauerviertels, rund um die Josephstraße. Diese Dokumentation in Form einer Broschüre entstand in enger Zusammenarbeit mit dem Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung (ASW) und eben auch mit dem Lindenauer Stadtteilverein e.V., den Christina 2003 gemeinsam mit interessierten Anwohnern gründete und in dem sie bis heute Teil des Vorstands ist.

Christina Weiß sitzt an einem Tisch in ihrer Wohnung in der Roßmarktstraße.
Im Herbst 2015 trafen wir uns mit Christina zu einem zweiten Interview. Anlass war eine Dokumentation zur Stadtteilentwicklung rund um die Josephstraße.

Wann ging das mit der Josephstraße los?
Kurz nachdem wir 2003 in die Roßmarktstraße gezogen waren, standen jede Woche Leute bei uns im Garten und wollten einziehen, weil sie es so schön fanden. Uns wurde schnell klar, dass sie nicht die Wohnungen meinten, sondern den großen Garten. Frank Lehmann, der damalige Geschäftsführer unserer Genossenschaft, hatte dann die Idee, dass man doch die Freiflächen in der Josephstraße nutzen und im Umfeld immobilienwirtschaftlich tätig werden könnte. Damals ging es im Stadtumbau ja nur um Abriss. Alles war negativ, es gab überhaupt keine positiven Beispiele für Nutzungen und weitergehende Konzepte. Es gab zwar Gestattungsvereinbarungen, bei denen der Eigentümer Abrisskosten und Befreiung von der Grundsteuer erhielt und die Flächen sich als temporäre Grünflächen im Stadtteil positiv auf die Entwicklung auswirken sollten. Aber ohne private Partner, die das auch füllen konnten, vermüllten die Flächen eben wieder. In der Roßmarkstraße war das plötzlich anders: Da kümmerte sich jemand. Auch die Josephstraße lag mehr als brach und einige Häuser waren einsturzgefährdet. Dort ging man nachts nicht hin. Es gab Drogendealer, die sich gegenseitig die Buden angezündet haben. Dort, wo jetzt der BuchKindergarten steht, lagen wochenlang ausgeweidete Hammel in den Hinterhöfen. Eine ausgebrannte Ponykutsche stand lange mitten auf der Straße. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Den Startschuss hat dann Frank Lehmann gegeben?
Um das Projekt in der Josephstraße zu verorten, ja. Wir hatten damals in der Roßmarktstraße schon einen Workshop mit den benachbarten Eigentümern und Anwohnern organisiert, um zu sehen, was jeder vorhat. So hatten wir eine Kommunikationsstruktur zwischen Anwohnern, Eigentümern und auch mit den Zuständigen in der Stadtverwaltung. Richtig los ging es in der Josephstraße dann nach einem Jahr Vorbereitungszeit mit den Baulagern 2004.

Der Garten des Hauses in der Roßmarktstraße in Leipzig Lindenau.
Die letzten Teile der ehemaligen Industriebebauung. »Irgendwann bauen wir das mal zu einer Werkstatt aus.«
Wohnhaus von Christina Weiß.
Das Wohnhaus in der Roßmarktstraße mit seiner schönen bewachsenen Außenwand und dem personifizierten Holzlattenzaun.

Was hältst Du für unabdingbar, um solch einen Prozess anzuschieben. Was müssen die Engagierten dafür mitbringen?
Sie sollten neugierig sein und Spaß an der Arbeit mit anderen haben. Was wir hier tun, ist mehr als die Summe der Einzelteile – so hatte Stefan Geiss das mal formuliert. Die Stadtverwaltung ist nicht in der Lage, mit Wirtschaft und Privateigentümern so zu kommunizieren, wie wir das können. Die Verwaltung kann Mahnungen schicken, aber das hilft nicht immer. Wir haben gemeinsam einen größeren Handlungsspielraum und können dann auch an Eigentümer herantreten, die ihre Post nicht lesen oder im Ausland leben. Man braucht dafür Durchhaltevermögen und in Bezug auf die Stadtverwaltung auch ein formales Konstrukt. Solange ich die Idee zur Freiflächennutzung in der Roßmarkstraße als private Person vorgetragen habe, gab es keine Reaktion. Sobald ich die gleiche Idee als familienfreundliches Projekt des Lindenauer Stadtteilvereins vorgetragen habe, ging es plötzlich.

Anhand des Verkehrszeichens 325, das umgangssprachlich eine Spielstraße definiert, lässt sich das gut erläutern. Wir lokalen Akteure sagten in den Workshops immer Spielstraße dazu, weil das unsere konkrete Vorstellung war. Der Verwaltung hingegen war die Verwendung der offiziellen Bezeichnung wichtig. Es war ein gegenseitiger Lernprozess. Die Verwaltung sah, dass wir sie nicht ärgern wollten, wenn wir die umgangssprachliche Bezeichnung nannten und wir lernten, dass die verschiedenen Ämter über diese Bezeichnung miteinander kommunizieren.

Ich engagiere mich in meiner Freizeit, weil mir meine Umgebung am Herzen liegt.

Es fällt immer der Begriff Akteur, wenn man über die Entwicklung des Bildhauerviertels spricht. Bezeichnest Du dich selbst so?
Die Bezeichnung selbst ist mir egal, wichtig ist das Selbstverständnis dahinter. Wenn damit ehrenamtlich agierende Menschen gemeint sind, die sich ihr Wohnumfeld gestalten möchten, dann bin ich Akteurin. Ich halte den Ansatz für falsch, einen Beauftragten in ein Gebiet zu setzen, der dieses dann entwickeln soll. Ich engagiere mich in meiner Freizeit, weil mir meine Umgebung am Herzen liegt. Ich möchte das nicht professionell im Leipziger Osten machen. Das Engagement muss von den Menschen vor Ort selbst kommen. Zum Selbstverständnis gehört bei mir und meinen Mitstreitern übrigens auch Wir sind die Stadt. Und in der Stadtverwaltung arbeiten 5.000 kompetente Angestellte, die wissen, wie es geht. Wir müssen nur zusammen wollen.

Kannst Du Deine Rolle in diesem Prozess in wenigen Worten beschreiben?
Wenn ich mir jetzt etwas anheften soll, könnte ich sagen, dass es das alles hier ohne mich nicht gegeben hätte. Das ist für mich so aber nicht wichtig. Ich kann mich auch immer leichten Herzens von den unterschiedlichen Projekten trennen. Tobias Habermann konnte damals lange nicht glauben, dass ich HausHalten e.V. und Nachbarschaftsgärten so einfach ausgründen und abgeben wollte. Für mich war es eine tolle Zeit, es hat viel Spaß gemacht; aber andere können das auch und ich habe dann Platz für Neues.

Blick in die Nachbarschaftsgärten in Leipzig Lindenau im Herbst 2015.
Blick in die Nachbarschaftsgärten, Herbst 2015.
Salomon Oriedo vor dem Lehmbauofen, der 2004 unter seiner Anleitung gebaut wurde.
Salomon Oriedo vor dem Lehmbauofen, der 2004 unter seiner Anleitung gebaut wurde.

Wie erkennst Du den Moment, an dem die Sache läuft und Du nicht mehr gebraucht wirst?
Für die Georg-Schwarz-Straße hatte ich das schon 2012 für mich festgestellt – wir waren da als Verein ja seit 2007 aktiv. Es gab seit 2011 das Magistralenmanagement, und es war klar, dass es von nun an ein Selbstläufer sein wird. Für mich ist dann der Moment gekommen, an dem ich nach anderen Ausschau halte, die das besser können als ich.

Was hast Du dir für das Bildhauerviertel gewünscht?
Es ging für mich immer um Personen und deren Freiräume, nie nur um Gebäude. Wenn wir uns mit Räumen beschäftigten, dann immer nur, um den Menschen die Möglichkeit zu geben, ihr Umfeld darin selbst mitzugestalten.

Waren die beteiligten Personen dann auch die größten Hindernisse?
Eigentlich gab es keine Hindernisse, es gab ja auch kein vorgegebenes Ziel. Höchstens zu Beginn, als wir noch nicht so recht wussten, wie wir mit der Stadtverwaltung umgehen sollten. Da war beispielsweise die Einzahlung einer privaten Spende in die Stadtkasse für die fehlenden städtischen Eigenmittel. Damit konnten dann Fördermittel abgerufen werden, die sonst verfallen wären. Das war neu, das hatte man vorher so noch nicht ausprobiert. Am Ende sind es Eigenmittelersatz-Bäume geworden, die wir auf dem Grundstück der Nachbarschaftsgärten damit gepflanzt haben. Das war eine ganz wichtige Erkenntnis. Und das war letztendlich nur möglich, weil uns eine motivierte, aber eben für das Gebiet gar nicht zuständige Sachbearbeiterin zu einem Kassenzeichen für die Einzahlung verholfen hatte. Umwege erhöhen die Ortskennnis!

Ein Pfirsichbaum in den Nachbarschaftsgärten. Er steht auf einer der Flächen deren Zwischennutzungsvertrag Ende 2015 auslief. Mitglieder des Vereins waren gerade dabei ihn auszugraben um ihn zu verpflanzen.
Ein Pfirsichbaum in den Nachbarschaftsgärten. Er steht auf einer der Flächen deren Zwischennutzungsvertrag Ende 2015 auslief. Mitglieder des Vereins waren gerade dabei ihn auszugraben um ihn zu verpflanzen.
Aufnahme der Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt in den Nachbarschaftsgärten.
Das RAD-Haus ist eine Fahrrad-Selbsthilfewerkstatt. In dem Gebäude befinden sich die Strom- und Wasseranschlüsse der Nachbarschaftsgärten und zusätzlich eine Holzwerkstatt.

Welche anderen Meilensteine gab es?
Eintreffen der ersten Zwischennutzungsverträge, Baulager, Eigenmittelersatz-Bäume. Ein Meilenstein war auch der Tisch, den Jörg Prosch damals gebaut hat: einen Meter breit und vier Meter lang und das zentrale Element, an dem sich alle zusammenfinden und gemeinsam reden und essen konnten. Und dann kam die erste Familie 2005, die in die Josephstraße gezogen ist. Und natürlich das Strohballenhaus als Experimentalbau auf einer Gestattungsvereinbarungsfläche. Von der Aktion Mensch hatten wir 2006 3.500 Euro erhalten, mit denen wir das Baumaterial für einen Ausstattungsgegenstand kaufen konnten. Das andere war die innerstädtische Mastschweinehaltung. Schon in der Roßmarktstraße wollten wir Schweine halten – das Veterinäramt fand, dass das in der Stadt nicht sein soll. Die zwei Kontrolldamen für die Josephstraße fanden dann aber unsere Minischweine sooo toll und rieten zu einer Stallhaltung mit gelegentlichem Auslauf. Ein wichtiger Meilenstein war auch, für das gesamte Projekt Wasser und Strom zu haben. Das war nur möglich durch die URBAN II-Förderung und weil zufällig 2004 eine Baufirma eine Gasleitung in der Josephstraße verlegt und dafür einen Bagger hatte.

Ein langer Tisch in den Nachbarschaftsgärtn in Leipzig Lindenau an dem eine große Gruppe von Menschen sitzen kann.
Ein großer Tisch wie dieser ist ein wesentliches Element für ehrenamtliche Projekte, zum gemeinsamen Austausch und Essen können sich alle hier zusammenfinden. Er wurde 2004 im Rahmen eines Baulagers gebaut.
Nachbarschaftsgärten in Leipzig Lindenau.
Die Gärten als grüne Oase im Herbst 2015. Vieles davon wird im darauffolgenden Jahr nicht mehr neu sprießen.

Wie begann das erste Baulager?
Wir sind 2003 an den Internationalen Bauorden herangetreten. Der arbeitet mit Freiwilligen aus der ganzen Welt, die ehrenamtlich Bauleistungen für gemeinnützige Zwecke erbringen. Die Nachbarschaftsgärten erstreckten sich ja über eine riesige Fläche, die voll war mit Bauschutt und Müll, und die erst einmal beräumt werden musste. Es gab keinen Mutterboden so wie heute. Zu Ostern 2004 fand das erste Baulager statt, über das die Leipziger Volkszeitung täglich berichtete. Jeder kannte auf einmal die Josephstraße. Auch über das zweite Baulager im Sommer wurde ausführlich berichtet, was dem Ganzen zum Durchbruch verhalf.

Welche Unterstützung habt ihr in den ersten Jahren von der Stadtverwaltung erhalten?
Das waren die ersten vier Jahre meist andere als die zuständigen Sachbearbeiterinnen, eher Quartiersmanagement, Vicky Günsel in einem Jahr für Leipzig der Villa e.V.Selbstnutzer. Es gab am Anfang ja zunächst die Idee mit dem Portfoliomanagement, in das das Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung (ASW) dann aber doch 2003 nicht eingestiegen ist. Die Baulager aber waren nur möglich, weil wir durch Förderung aus dem Programm URBAN II finanziell die Möglichkeit dazu erhielten und Norbert Raschke als zuständiger Koordinator das zwar zunächst etwas skeptisch betrachtete, aber eben auch neugierig genug war und grundsätzlich wohlwollend. Nach dem ersten Baulager hat Karsten Gerkens dann mehrfach auf meinen Anrufbeantworter gesprochen und wollte sich doch über Brachflächenmanagement unterhalten. Daraus ist dann leider nicht viel geworden. Unsere konkreten Vor-Ort-Erfahrungen wurden nicht weiter genutzt, sondern in Form einer stadtweiten Datenbank digitalisiert. Das passte einfach nicht zur Materie. Erst als 2007 Birgit Seeberger und Stefan Geiss zuständig wurden, fing die Zusammenarbeit mit den ASW richtig an. Unsere Forderung war schnell klar: ein sichtbares Zeichen im öffentlichen Raum als Bekenntnis von Verwaltung und Politik zum Standort. Die Idee war dann später der Bau einer Spielstraße. Die Finanzierung war zwischendurch gefährdet, aber Birgit Seeberger hat einfach nicht locker gelassen.

Die Idee zu den Planungs- und Verkehrsworkshops kam vom Lindenauer Stadtteilverein. Gab es für Dich Beispiele, die ihr heranziehen konntet?
Die Idee zu den Workshops kam 2001 von Stephan Besier, er ist Stadt- und Verkehrsplaner. Fritjof Mothes vom Planungslabor Stadtlabor hat die Workshops seitdem moderiert. Diese dauern etwa vier Stunden und werden meist über ein halbes Jahr hinweg detailliert von uns Ehrenamtlichen vorbereitet. Jeder Teilnehmer soll die gleichen Ausgangsinformationen haben. Anfangs hatte uns die Stadtverwaltung sogar noch mehr oder weniger verboten, bestimmte Informationen, wie zum Beispiel Bebauungspläne, herumzuschicken. Das ist heute kein Thema mehr, und Teil eines Lernprozesses, von dem die Sachbearbeiter auch anderswo profitieren können.

Birgit Seeberger, Sachbearbeiterin im Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung (ASW), betreut seit 2007 den Leipziger Westen.
Birgit Seeberger, Sachbearbeiterin im Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung (ASW), betreut seit 2007 den Leipziger Westen.
Fritjof Mothes stieg als Moderator der Workshops ebenfalls 2007 in die Stadtteilentwicklung rund um die Josephstraße ein.
Fritjof Mothes stieg als Moderator der Workshops ebenfalls 2007 in die Stadtteilentwicklung rund um die Josephstraße ein.

2001 war Fritjof Mothes schon Moderator in einem Workshop für den Lindenauer Markt. Wie hast Du ihn damals erlebt?
Er hat das fachliche Wissen und ein unglaubliches Gespür dafür, was möglich ist. Es war immer das Ziel, einen Konsens zu erreichen, hinter dem später alle stehen können.

Hätte man die gesamten Flächen der Nachbarschaftsgärten Deiner Meinung nach erhalten können?
Die Frage hat sich meines Erachtens so nicht gestellt. Was ja in jedem Fall weiter existieren wird, sind die Fläche der Stadt und das RAD-Haus: Wir haben 2008 jemanden gebeten, das Gebäude mit den Versorgungsanschlüssen zu kaufen. Jemanden, bei dem wir sicher sind, dass es dann dem Stadtteil erhalten bleibt. Wir hatten auch mit den Workshops Verschiedenes auf den Weg gebracht, um den Standort zu verstetigen. Das wurde dann ab 2011 nicht alles weitergeführt. Das ist so auch okay; man muss sich aber eben auch der Konsequenzen bewusst sein. Letztlich entscheidet ausschließlich derjenige, dem die Fläche gehört, was damit gemacht wird.

War es ein Zufall, dass die große Fläche der Nachbarschaftsgärten nur einem einzigen Eigentümer gehörte?
Der große Innenteil war früher einmal ein Gärtnereigelände, das zu DDR-Zeiten fast komplett betoniert und später von einer Schweizer Immobilien AG zusammengekauft wurde. Das Gelände umfasste fünf Einzelgrundstücke, die wir – mit vier weiteren Nachbargrundstücken – 2008 in einem Vertrag dem Nachbarschaftsgärten e.V. übergeben haben. Für alle anderen Grundstücke hat der ausgegründete Verein eigene Verträge abgeschlossen. Von den Schweizern war aber kein Ansprechpartner wirklich greifbar. Erst mit dem Verkauf 2015 gab es jemanden. Deshalb ist der Lindenauer Stadtteilverein dann auch zum Jahresende 2015 aus dem letzten Vertrag ausgestiegen. Die Nachbarschaftsgärten hatten so die Möglichkeit, das innenliegende Flurstück 116 zunächst selbst zu pachten und dann vielleicht zu erwerben. Der neue Eigentümer baut jetzt in Blockrandschließung auf der Siemeringstraße fünfgeschossig und wird in die Fläche dahinter einen Solitärbau setzen. Das ist sein gutes Recht. Super nett ist, dass er die innenliegende Fläche zuerst den Nachbarschaftsgärten angeboten hat.

Was ist Deiner Meinung nach die Zielgruppe für eine Dokumentation, wie sie jetzt in Form einer Broschüre erscheint und in der unser jetziges Gespräch enthalten ist?
Wichtig ist uns, eine Übertragbarkeit der Prozesse ablesbar zu machen. Das Thema Zwischennutzung ist für Leipzig so nicht mehr relevant. Für andere Städte wird es jetzt erst interessant. Leer stehende Häuser in Deutschland findet man nicht mehr nur im Osten, sondern auch zum Beispiel im Ruhrgebiet oder im ländlichen Raum. Leipzig erhält immer mehr Anfragen zur schrumpfenden Stadt, zu Zwischennutzung und Leerstand. Deshalb ist diese Broschüre für Stadtverwaltung und Vereine auch eine Arbeitserleichterung. Und es ist eine Wertschätzung für die vielen Menschen, die die Entwicklung des Bildhauerviertels so maßgeblich mitbestimmt haben.

Mehr als die Summe der Einzelteile

Dieses Gespräch ist Teil einer Dokumentation über die Entwicklung des Bildhauerviertels in Leipzig Lindenau. Die Broschüre enstand in enger Zusammenarbeit mit dem Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung (ASW) und dem Lindenauer Stadtteilverein e.V..

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Info

Christina Weiß studierte Archäologie und Romanistik in Bonn und Paris. 2001 gründete sie den Lindenauer Stadtteilverein, der sich aktiv an der Gestaltung von Lindenau beteiligt.

Credits