Man nimmt den Charakter des Stadtteils auf, in dem man lebt.
Bertram Haude
Wir haben Bertram Haude kurz nach Weihnachten in der alten Post in Lindenau besucht. Er wohnt dort mit seiner Familie in den ehemaligen Verwaltungsräumen. Bertram ist freischaffender Künstler und lebt seit Mitte der 90er in Leipzig.
Du bist 1994 nach Leipzig gekommen. Zum studieren?
Ja, ich habe Förderpädagogik studiert und das erste Staatsexamen gemacht. Schon während des Studiums habe ich Leute von der Hochschule für Grafik und Buchkunst kennen gelernt und mich anschließend in Halle an der Burg Giebichenstein und in Leipzig beworben. Vor dem Referendariat habe ich dann beschlossen, an der HGB in Leipzig Kunst zu studieren.
Hast du jemals als Sonderpädagoge gearbeitet?
Nein, abgesehen von einigen Praktika und meiner Zivildienstzeit an einer Schule für Kinder mit geistiger Behinderung, nie.
Wo hast du damals gewohnt?
In der Karl-Heine-Straße, in der Nähe der Spinnerei. Dort gab es eine WG und es wurde gerade ein Zimmer frei. Da bin ich dann eingezogen. Das Haus gehörte der Wohnungsbaugesellschaft, die damals Wohnungen vergaben, wenn man sich bewarb.
Das heißt, du hast schon von Beginn an im Leipziger Westen gewohnt?
Das Pädagogische Institut ist ja ebenfalls in der Karl-Heine-Strasse. Da wollte ich in der Nähe wohnen. Später bin ich dann in die Gleisstraße gezogen. Da ich schon immer viele Dinge besaß, habe ich Umzüge möglichst vermieden. Der ganze Kunstkram, auch die Möbel. Ich hatte schon früh einen großen Fundus an Dingen.
Standen damals noch viele Häuser leer und verfielen?
Ja, ich schätze jedes fünfte Haus stand leer. Es wurde zum Hobby, den Rucksack zu packen, Werkzeug mitzunehmen und loszuziehen. Wir sind dann losspaziert und sind in das eine oder andere Haus hineingegangen um zu schauen, was es dort an Dingen so gibt. Kennt ihr das nicht mehr?
Wir sind ja erst seit 2004 in Leipzig, damals gab es nicht mehr so viele leerstehende Häuser. Im Westen gab es praktisch keinen Leerstand.
Meine Frau hat ab 2007 einige Zeit im Westen gearbeitet. Wenn sie dort erzählt hat, dass wir gerade eine Lampe im Nachbarhaus gefunden haben, waren die Zuhörer immer irritiert. »Wie? Gefunden, im Nachbarhaus?«. Sie dann: »Na, das steht leer. Wir gehen dann da rein und nehmen ein paar Sachen, die wir brauchen mit. Wenn das Haus saniert wird, dann wird das ja alles weggeworfen.« »Ihr PLÜNDERT also?«. Das war für die unfassbar.
Das war manchmal wie in Horrorfilmen. Man kam in Schlafzimmer in denen die Betten aufgeschlitzt waren, die Federn lagen herum, Schaumstoff quoll heraus.
Wie habt ihr das genannt, das Durchstöbern der verlassenen Häuser?
Bei uns hieß das in den Abriß gehen. Das war aber nicht alles Abriss, sondern stand eben leer. Für mich ist es bis heute rätselhaft, wie dies geschehen konnte. Vielleicht sind die Leute nach der Wende sofort in den Westen aufgebrochen. Sofort nach dem Mauerfall, zack in den Westen. Anders kann ich mir das nicht erklären.
In manchen Häusern lagen sogar noch Lebensmittel in den Kühlschränken, auf den Tischen. Das Spielzeug lag noch rum. Oft waren vor uns schon Leute in den Häusern gewesen, die da oft auch randaliert haben, die Sachen aus den Schränken geworfen und zerschlagen hatten. Das war manchmal wie in Horrorfilmen. Man kam in Schlafzimmer in denen die Betten aufgeschlitzt waren, die Federn lagen herum, Schaumstoff quoll heraus. Alles lag voll mit Klamotten, die Vorhänge waren halb heruntergezogen, und man dachte: »Jetzt guckste in das Bett und es liegt noch jemand darin.« Das war mitunter gruselig. Auch in den alten Fabriken, wo der Wind fauchte und hinter Dir die Türen krachten.
Meinst du manche haben dem Frieden nicht getraut und sind deshalb auf und davon?
Keine Ahnung, aber vermutlich hieß es dann ab in den Westen. Wenn man in eine andere Wohnung zieht, dann nimmt man doch seine Sachen mit. Man lässt doch nicht alles stehen und liegen. Wir haben auch persönliche Dinge gefunden, Ausweise, Fotos, Alben, Briefe.
Wann hast du angefangen zu entscheiden, was du aufhebst, was du mit nimmst, was du behält?
Das habe ich bis heute nicht entschieden (Lacht). Jetzt gibt es ja nicht mehr die Gelegenheiten.
Gibt es etwas, das ihr nicht mitgenommen habt?
Es gab Leute, die haben in den alten Häusern die Treppengeländer weggesägt. Dann sieht man auf dem Flohmarkt diese schönen, gedrechselten Eichensäulen liegen. Die Häuser wurden ja nicht alle abgerissen und wenn man es irgendwann sanieren möchte, fehlen diese Dinge. Diese Zerstörungen empfinde ich als Frevel, niemand baut solche Sachen wieder nach. Da werden dann bei der Sanierung Vierkanthölzer und Besenstiele eingesetzt. Wir haben nur Kleinkram, gelegentlich auch Möbel mitgenommen.
Mir war das immer ein Rätsel, wieso sich niemand so lange um die Häuser gekümmert hat.
Das waren wohl auch einfach zu viele. Die LWB oder andere Hausbesitzer haben schon immer mal wieder jemanden vorbei geschickt, um Fenster zu vernageln. Aber dann war hinten im Hof ein Fenster zerschlagen und die Leute sind dann trotzdem rein. Und die Fabriken sind einfach aufgegeben worden.
Wie oft warst du in den Häusern?
In manchen war ich bestimmt zehnmal. Es hat sich immer wieder gelohnt. In über hundert war ich bestimmt drinnen.
Hast du die Häuser systematisch aufgesucht?
Nein, überhaupt nicht. Manchmal ist man auf dem Weg zu jemandem und kommt an einem leerstehenden Haus vorbei. Nach ein paar Monaten wird eine Lampe für das Schlafzimmer gebraucht. Man denkt an das Haus und fährt kurz vorbei. Dann finden wir da einen Pelzmantel, da finde ich Tischdecken, Stühle, auch Lampen.
Zum Beispiel, das was hier hängt, das war ein Vorhang, der hing in einer Küche, den habe ich gesehen und gedacht: »Mensch, das ist ein schöner Vorhang, so gestickt. Nehme ich mit.« Und der Rahmen, auf den der Stoff gespannt ist, den habe ich in einer aufgelassenen Galerie gefunden.
Dann kommt man mal wieder in den Park, da war früher die alte Hotelfachschule, und man sieht, dass ein paar Typen haufenweise Sachen in einen Container werfen. Wir gehen in den Hof und fragen. Antwort: „Hier wird dichtgemacht, kommen Rechtsanwälte rein“. Da sagen wir dann, »da müssen wir mal vorbeigehen«. Am nächsten Tag findet man dann große schöne Pfannen und Töpfe im Container, die können wir sehr gut gebrauchen, wenn wir größere Feste feiern oder Veranstaltungen machen, also nimmt man die mit.
Gibt es denn auch Dinge, für die du Geld bezahlt hast?
Ja sicher. Da wo jetzt das Neue Schauspiel ist war früher ein Trödelladen. Da habe ich Möbel für die Küche gekauft. Die hatten immer günstige und interessante Angebote. Die Sachen habe ich dann ein bißchen aufgearbeitet.
Wie kamst du in das Haus in der Gleisstraße?
Das gehörte sehr lang der LWB. Ich glaube, bis kurz nach 2000. Dann haben es „Hildebrandt &Jürgens“ übernommen, die hier alles einsacken. Als ich einzog, war ich der erste Student. Die anderen Mieter waren älter und wohnten dort schon länger. Denen war es irgendwann zu abgewohnt und sie sind ausgezogen. Wir hatten Ofenheizung, teilweise noch die Originalfenster, einfachverglast. Nach und nach sind Studenten eingezogen, bis das Haus eine Studentenkommune wurde, was wir alle super fanden. Es war dann eines der letzten, unsanierten Häuser in der Gleisstraße. In manchen Wohnungen waren der Strom und das Gas abgeklemmt. Da habe ich dann verhandelt und für einen Euro pro Quadrameter den Raum für ein Lager genommen. Das Erdgeschoss war lange unbewohnt. Dort war früher die DAZ, Die Leipziger Andere Zeitung drinnen, der Vorläufer vom Kreuzer. Die sind dann irgendwann raus und wir haben den Raum übernommen, um Werkstatt, Party und Lager zu machen.
Als es ruchbar wurde, dass Hildebrandt & Jürgens zuschlagen würden, sind die Leute nach und nach freiwillig ausgezogen.
Wie lange hattest du Zeit dir was anderes zu suchen?
Als es ruchbar wurde, dass Hildebrandt und Jürgens zuschlagen würden, sind die Leute nach und nach freiwillig ausgezogen. Ich habe den Auszug so lange hinausgezögert, bis ich etwas anderes gefunden hatte. Schließlich habe ich eine Abfindung bekommen, die zwar nicht hoch war, von der ich aber in der neuen Wohnung die Böden machen konnte. Die Aufarbeitung der Fußböden war hier das teuerste in der Wohnung.
Das ist deine jetzige Wohnung in der ehemaligen Post von Lindenau. Wie hat sich das ergeben?
Plagwitz war bereits damals recht beliebt und nach Lindenau wollte noch keiner. Das war noch nicht so entdeckt. Es hieß immer, die Josephstraße ist die übelste Straße. Das war hier alles abgewrackt. Ich bin hier irgendwann mal vorbeigefahren, habe die abgerundeten Fenster gesehen und dachte, das ist vielleicht eine passende Wohnung. Als wir uns die Wohnung angeschaut haben war hier noch alles zugenagelt und über den kaputten, aufgequollenen Dielen lag Linoleum. Aber die Fenster waren eingesetzt und es gab eine funktionierende Heizung.
Welche Vereinbarungen habt ihr getroffen?
Wir haben gesagt, dass wir soundsoviel inklusive der Nebenkosten zahlen können und das die Verwaltung anschließend keinen Finger krumm machen müsse. Mit dieser Lösung waren wir damals alle zufrieden. Wir sind dann auch davon ausgegangen, dass der Vertag so bleiben wird, wie wir ihn vereinbart hatten. Irgendwann haben die dann realisiert, dass sie das für ihre Seite nicht wirklich günstig geregelt hatten. Sie wollten dann plötzlich, dass wir die ortsübliche Miete zahlen, wir hätten unsere Investitionen abgewohnt. Wir haben uns letztlich auf einen Vergleich geeinigt, was dann, wenn man die Miete mit anderen Räumen dieser Größe vergleicht, immer noch okay ist.
Wie finanzierst du dich?
Ich habe nie mit Kunst Geld verdient. Es gibt manchmal eine Ausschreibung oder ein Stipendium, wodurch man ein paar Monate Ruhe hat. Früher habe ich als Industriekletterer in einer Firma gearbeitet, die sich auf Höhenarbeiten spezialisiert hatte. Heute arbeite ich in einer kleinen Firma, in der ich mit Freunden Exponat- und Objekteinrichtungen in Museen mache. Eine sehr schöne Arbeit. Man ist in verschiedenen Museen, hat mit Wissenschaftlern zu tun, hat die Objekte in der Hand, kann ein bisschen gestalten und man lernt viele interessante Sachen. Damit verdiene ich mein Geld.
Wofür gibst du Geld aus?
Letztes Jahr habe ich ein Foto-Buch gedruckt. Ich kaufe mir kaum etwas. Wein muss natürlich sein, auch Spirituosen müssen im Haus sein. Wenn es um die Kunst geht, da wird das Geld reingesteckt. Große Ausgaben vermeide ich. Ich mache keine großen Reisen. Für Bücher gebe ich schon Geld aus. Ich muss die Bücher haben.
Wie kamst du zu dem Schwert des Sägerochens?
Den habe ich aus einem Gastronomiebetrieb, einem Versorgungskontor in der Nähe der Gleisstrasse. Dort gab es Grafikschränke, ganze Regale mit Bierdeckeln und auch solch kuriose Ausstattungsgegenstände. Das große Stahlregal im Flur haben wir dort herausgeholt. Wir haben es auseinandergebaut und vom Dachboden mit Stricken herabgelassen, da es nicht durch das Treppenhaus gepasst hätte. Im Nachbarhaus haben uns die Rentner aus ihren Fenstern beobachtet und wir haben gerufen, »wir sind von der Wertsicherungs AG«.
Deine Arbeit „The hidden god of fulfilment” ist im Karstadt in Leipzig entstanden, mit wie vielen Menschen musstest du sprechen, bis du eine Drehgenehmigung bekommen hast?
Ich habe erst einmal die Chefs hier in Leipzig angeschrieben, per Post. Die wollten das aber nicht, weil sie befürchteten, dass es den laufenden Betrieb beeinträchtigen könnte. Daraufhin habe ich nach Essen geschrieben, an die Firmenzentrale. Die haben dann ihr Einverständnis gegeben.
Wollte die Zentrale wissen, wofür du die Aufnahme anfertigst?
Nein, eigentlich nicht. Ich habe sie auch eingeladen zur Ausstellungseröffnung nach Leipzig. Keine Ahnung, ob jemand da war.
Unsere Gesellschaft hat sich mittlerweile weitgehend von der traditionellen Religion, vom christlichen Glauben distanziert, aber der kapitalistische Kult, der sich auf ihm parasitär entwickelt hat und keinen Sonntag mehr kennt, ist omnipräsent.
Wie oft hast du den Brunnen besucht, bevor dir klar wurde, dass du ihn filmen möchtest?
Ich erarbeite mir das nicht Stück für Stück. Ich beschäftige mich schon sehr lange mit der Thematik Kapitalismus und Religion und wie sich diese formal in einer Gesellschaft abbildet. Dieser Brunnen wirkt auf mich wie das Paradiesbrünnlein, hier inmitten dieses Tempels des Konsums. Dieses aufleuchtende Mandala, dann die Explosion, das Orakelartige. Ich dachte, das muss ich mal thematisieren.
Hat dich diese Erfurcht, mit der die Besucher das Brunnenspektakel anschauen, nie gestört?
Was heißt gestört? Das ist doch das Wesentliche einer solchen Wunderschau. Die Musik ist erhaben und manipulativ, einerseits totaler Kitsch, aber sie transportiert die Menschen kurzzeitig in eine andere Atmosphäre. Das Spektakel scheint notwendig zu sein, um die Gemeinde zu verzaubern und ihr ein Geheimnis anzudeuten. Walter Benjamin schrieb 1921, das der Gott der kapitalistischen Praxis verborgen bleiben muss. Es gibt eine Heilsschau, aber das Allerheiligste darf niemand betreten. Gott ist nie zu sehen, man darf ihn nicht sehen, aber er ist immer wirksam.
Unsere Gesellschaft hat sich mittlerweile weitgehend von der traditionellen Religion, vom christlichen Glauben distanziert, aber der kapitalistische Kult, der sich auf ihm parasitär entwickelt hat und keinen Sonntag mehr kennt, ist omnipräsent. Es ist für uns ganz selbstverständlich, dass ich mein Erspartes investieren muss. Dass ich einen Kredit aufnehmen muss, dass ich Schulden machen muss, damit das System funktioniert. Das sind für uns keine abstrakten Dinge, sondern das ist gelebtes, tägliches Tun. Wenn Geld vorhanden ist, dann wird es investiert, damit es sich vermehrt. Das hat jeder verstanden. Der Kult ist immanent, die Absolutheit ist nicht mehr transzendent sondern immanent.
Unsere Gesellschaft mag an der Oberfläche vielleicht aufgeklärt und rational erscheinen, ich denke jedoch, dass sie komplett durchdrungen ist von religiöser Dynamik und Praxis.
Woher kommt die Beschäftigung mit der Religion?
Ich bin in einem gläubigen Elternhaus aufgewachsen. Es gab in meiner Familie verschiedenste Typen, Christen aus der Herrenhuter Gemeinde und ebenso SED-Mitglieder. Mich interessiert auch das Judentum sehr. Unsere Gesellschaft mag an der Oberfläche vielleicht aufgeklärt und rational erscheinen, ich denke jedoch, dass sie komplett durchdrungen ist von religiöser Dynamik und Praxis. Religion und Rituale sind Methoden, um große soziale Einheiten zu ordnen. Das ist soziologisch schlüssig. Die Stabilität kommt allerdings erst durch den Glauben an eine absolute Instanz. Ein König oder Kaiser kann immer wieder stürzen. Deshalb ist ein absoluter Wert notwendig, auf den sich Überzeugungen und Vereinbarungen aller Teilnehmer an einer Gesellschaft ausrichten lassen.
Was inspiriert dich?
Es sind immer wieder die übersehenen Einbrüche im alltäglichen Geschäft, Löcher im Ablauf der normalen Zeit, sowas wie die Fehler in der Matrix, scheinbar sinnfreie Formationen und Abbildungen von Handlungen und Kombinationen, spontane Homologien, Versprecher und Umklappungen von Sinn, Material, Bedeutungen, es sind Beiläufigkeiten und eigensinnige Passungen, sowas erregt automatisch meine Aufmerksamkeit.
Es gibt keine bestimmte Technik oder ein bestimmtes Material, mit dem ich mich identifizieren würde. Ich beschäftige mich zwar mit dem Thema, aber ich arbeite mich nicht an eine bestimmte Form heran. Es gibt sozusagen keine Entwicklungsarbeit im Sinne einer langen, prozesshaften Arbeit an der Leinwand. Dieses Prozesshafte, wie man es beispielsweise bei Malern erlebt, die sich ein Bild erarbeiten, findet bei mir nur im Kopf statt.
Hast du feste Arbeitszeiten?
Überhaupt nicht. Ich hatte auch nie ein externes Atelier. Deshalb brauchte ich auch immer große Wohnungen. Das Atelier war bei mir immer schon integriert. Alles ist zusammen. Wenn mir abends etwas einfällt, dann kann ich gleich an die Arbeit gehen und muss nicht erst überlegen, ob ich das Material in der Wohnung oder im Atelier habe. Ich habe immer alles bei einander, kann immer arbeiten.
Vieles wird geglättet und poliert, davor habe ich auch ein bisschen Angst. Das finden die in der Stadtverwaltung natürlich nicht so, aber das Räudige muss auch bleiben.
Was sagst du zur Entwicklung in Lindenau / Plagwitz?
Ja, die ist erstaunlich. Es verjüngt sich hier sehr. Bei den Stadtteilfesten ist die ganze Straße voll mit Menschen. Aber ich möchte zum Beispiel nicht, dass in den Eisenwarenladen Gross in der Josephstraße eine weitere Kneipe reinkommt. Ich möchte, dass dieser Raum als Geschäft erhalten bleibt. Mit ein paar Freunden schaue ich gerade, ob ein Nachfolger, der das Geschäft weiterführt, gefunden werden kann. Viele finden es wichtig dort hingehen zu können, wenn man ein paar Sachen braucht. Das soll eine lokale und nachbarschaftliche Alternative zum Baumarkt bleiben.
Vieles wird geglättet und poliert, davor habe ich auch ein bisschen Angst. Das finden die in der Stadtverwaltung natürlich nicht so, aber das Räudige muss auch bleiben. Ich finde es wichtig, ein gewisses Maß an Trübung weiter existieren zu lassen. Man nimmt auch den Charakter des Stadtteils auf, wenn man hier lebt. Die alten Fabriken, die Pflasterstrassen, diese räudigen Ecken, daran hat man sich gewöhnt. Wenn das jetzt alles glatt gezogen wird, dann wird der Stadtteil gesichtslos und auch charakterlos. Da bin ich nostalgisch. So wie Räume gestaltet werden, also auch der Stadtraum gestaltet wird, in welchem man sich befindet, so wird auch der Geist geprägt. Das eine bildet sich im anderen ab. Neulich habe ich Fenster geputzt und von unten ruft jemand hoch »Da ist noch ne Eckig dreckig!«. Ich finde das klasse. Ich finde es toll, dass es noch Leute gibt, die jemanden einfach ansprechen. Das gibt es nicht mehr oft. Oder ein Bedürfnis nach Hilfe, das man auch artikulieren kann, wer hat das denn noch. Dadurch entsteht ein sozialer Raum.
Wir haben das ja auch in der Gleisstraße gemacht, immer im Mai an einem Sonntag, ich hatte das damals initiiert, dass wir ein Frühstück auf der Straße machen. Da kam dann jeder raus, mit Tischen, Stühlen, Sachen fürs Frühstück. Da hatten wir dann manchmal zwanzig, dreissig Meter lange Tische. Das ist eine Tradition geworden, die noch heute fortgeführt wird.
Info
Bertram Haude studierte von 1999 bis 2004 an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. Er ist Meisterschüler von Astrid Klein und arbeitet als freier Künstler.Links
Credits
- Das Interview führte Petra Mattheis
- Fotos von Regentaucher