Wir haben überlegt, wo ein schöner Ort zum Leben sein könnte könnte.
Charlotte Wilde & Michael Vogel
2003 waren Wilde & Vogel Mitbegründer des Vereins Lindenfels Westflügel Leipzig, wo sie seither Organisation von Veranstaltungen und die künstlerische Leitung übernehmen.
Sie haben für ihre Inszenierungen zahlreiche Preise erhalten und ihr Tourneeprogramm hat sie bereits in über 30 verschiedene Länder in Europa, Amerika und Asien geführt, wo sie unter anderem auf Festivals Stücke aus ihrem umfangreichen Repertoir zeigen.
Wir haben Charlotte und Michael im Westflügel besucht, durften einen Blick in die Werkstatt und hinter die Kulissen werfen, und sprachen über ihre Anfänge als Figurenspieler, die Entwicklung der verschiedenen Stücke und auch über die Veränderungen des Stadtviertels.
Wie habt ihr euch kennengelernt? War das ein besonders glücklicher Zufall?
Charlotte: Kennengelernt haben wir uns schon vor langer Zeit. Wir haben zusammen Abitur gemacht und sind dann einfach zusammengeblieben. Das hatte damals noch gar nichts mit Kunst und Theater zu tun, wobei Michael schon zu dieser Zeit gern Puppen gebaut hat. Und ich habe damals Gitarre gespielt und gerne Musik gemacht. Wir haben anschließend studiert und parallel auch gleich ein Stück zusammen entwickelt. Michael hat Figurentheater in Stuttgart studiert und eigentlich war es damals nicht erlaubt, während eines Schauspielstudiums öffentlich aufzutreten. Die Hochschule hat damals ein Auge zugedrückt und uns Erfahrungen sammeln lassen.
Was war das erste Stück? Worum ging es?
Charlotte: Es war eine Marionettenrevue. Sehr schlicht. Nicht unbedingt aus technischer Sicht, aber vom Inhalt her ging es eher um kleinere Szenen mit Puppen. So fangen viele Figurenspieler an.
Michael Man muss sich dies als ein Varietéprogramm vorstellen. Ich habe eine Marionette gebaut, weil mich daran etwas interessiert hat. Zum Beispiel, wie eine Marionette tanzen, fliegen oder Feuer spucken kann, oder Schallplatten auflegen oder einen Koffer aufmachen. Das waren solche Varietéstückchen, die sich über die Jahre entwickelt haben. Ich hatte damals bestimmt zwanzig Puppen, mit denen wir dann herumgefahren sind und gespielt haben. Das erste Mal in Karlsruhe, in einem kleinen Theater, in Schulen, wo es eben ging. Die Stücke waren auch damals schon etwas für Erwachsene, zwei Stunden, mit einer Pause und allem drum und dran.
Ich spiele sehr gerne für Kinder, aber die Erfahrungen, die man mit so einem Stück machen kann, waren dann auch irgendwann gemacht.
Charlotte: Und dann hatten wir Lust weiterzumachen. Wir beide mochten Janosch gern, und haben das Stück Oh wie schön ist Panama adaptiert. Das war zu Beginn der großen Janoschwelle, die ja seit dem nie mehr so richtig verebbt ist, was für uns sehr hilfreich war. Insgesamt haben wir das Stück über 250 mal gespielt. Zum Abschluss im Zwinger 3 in Heidelberg, einem sehr schönen, städtischen Kinder- und Jugendtheater. Theater wie diese suchen oft Stücke für kleine Kinder, weil sie selber lieber richtiges Theater machen wollen.
Über welchen Zeitraum hinweg habt ihr diese 250 Aufführungen gemacht?
Charlotte: Das dürften sechs Jahre gewesen sein. Von 1994 bis 2000.
Michael: An Silvester 2000 haben wir es abgespielt.
Charlotte: Genau, bei dem Stück haben wir ganz bewusst entschieden, dass es reicht.
Michael: Wir hätten es vermutlich ein ganzes Leben lang spielen können. Ich spiele sehr gerne für Kinder, aber die Erfahrungen, die man mit so einem Stück machen kann, waren dann auch irgendwann gemacht. Alles was bei einem solchen Stück passieren kann, ist bereits passiert. Zu dieser Zeit lief der Tigerentenclub im Fernsehen an und das Publikum änderte sich. Die Menschen kamen anschließend eher aufgrund der Fernseheindrücke zu uns, als wegen des Buches, auf das wir uns bezogen hatten.
Charlotte: So haben wir damals angefangen. Ich glaube, es war wahnsinnig wichtig so viel zu spielen. Wenn wir etwas gemacht hätten was niemanden interessiert, wären wir vielleicht umgeschwenkt.
Was meinst du mit umgeschwenkt?
Charlotte: Ich weiß nicht, ob wir uns ansonsten getraut hätten, es durchzuziehen. Für studentische Verhältnisse haben wir bereits ganz gut Geld verdient und Michael hat auch während des Studiums schon mit drei Kolleginnen zusammen ein sehr erfolgreiches Stück gemacht. Es hieß Lug und Trug, Frank Soehnle führte Regie. Das wurde auch international gespielt. Man sammelt Spielerfahrung und gleichzeitig Kontakte zu den Veranstaltern.
Ich habe damals in Karlsruhe Musik auf Lehramt studiert. Michael hat 1997 mit unserem ersten professionellen Stück Exit. Eine Hamletfantasie Diplom an der Hochschule gemacht. Von Michael stammten die Figuren, Frank Soehnle führte Regie und von mir stammte die Musik. Das war der Punkt, an dem es wirklich professionell wurde.
Es ist natürlich auch ein wenig Größenwahnsinnig, mit Hamlet DAS Theaterstück schlechthin zu nehmen.
Dann war der Übergang zu einem Leben als professionelle Figurenspieler fließend?
Charlotte Ja, Michael hatte schon während des Studiums beschlossen, das Figurenspielen professionell zu betreiben. Für Michael war ja schon durch das Studium klar, dass er das professionell betreiben wird.
Da ich zeitgleich mit meinem Studium fertig war, habe ich mein Refendariat hinten angestellt und gesagt: »Okay, machen wir das ein Jahr.«
Michael: Ich habe ja nie etwas anderes getan in meinem Leben. Ich habe immer Puppentheater gemacht und bereits im Kindergarten Puppenbühnen gebaut. Es war daher nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung. Die Entscheidung hat das Leben getroffen, weil man plötzlich davon leben konnte.
Wie findet ihr eure Geschichten? Wie ergibt sich das? Wie sagt ihr, daran arbeiten wir jetzt?
Michael Das wächst auch so langsam daher. Bei Exit gab es schon lange den Wunsch, mit dem Thema Hamlet ein Urstück des Theaters umzusetzen. Was geschieht, wenn ich mich mit der Musik und den Puppen mit dem Thema auseinandersetze? Das hat mich interessiert. Es ist natürlich auch ein wenig Größenwahnsinnig, DAS Theaterstück schlechthin zu nehmen. Aber das hat nicht nur für uns, sondern auch für viele andere gut funktioniert.
Manchmal kommt ein Impuls von aussen, wenn beispielsweise ein Kollege uns anspricht und gerne ein Stück mit uns umsetzen möchte. Christiane Zanger beispielsweise kam zu uns mit dem Buch Maria auf dem Seil. Das liest man dann durch und sagt: »Och ja, lass uns das machen.« Aktuell sind wir an einem Thema dran, das sich ganz langsam anbahnt. Es lässt sich noch gar nicht genau sagen, warum uns das interessiert.
Manchmal baue ich eine Figur und lasse sie ihre eigene Form und Geschichte finden. Man kann den Prozess nur schwer beschreiben. Man merkt nur manchmal, dass es anfängt zu strahlen.
Du baust also nicht nur für ein bestimmtes Stück Puppen?
Michael: Es ist immer eine Mischung. Ich bemühe mich auch um Unabsichtlichkeit. Manchmal baue ich eine Figur und lasse sie ihre eigene Form und Geschichte finden. Ohne mich konkret auf eine Marionette oder eine Schattenfigur festzulegen, oder zu bestimmen, dass sie groß oder klein ist. Am Anfang steht immer ein Plan und eine Idee, aber ich versuche immer, mich davon zu distanzieren. Denn die Idee ist meist hässlich. Man kann den Prozess nur schwer beschreiben. Man merkt nur manchmal, dass es anfängt zu strahlen. An diesem Punkt macht man dann weiter.
Probiert ihr das dann gleich auf der Bühne aus? Ihr habt ja sehr kurze Wege? In welchen Abständen probt ihr das?
Charlotte: Das eigentliche Probieren ist schon sehr geregelt. Und gemaßregelt durch die Finanzierung. Es ist schon so, dass eine künstlerische Arbeit permanent läuft und man Ideen sammelt und herumspinnt, wohin sich die Dinge entwickeln könnten. Die künstlerische Vorbereitung läuft immerzu. Aber es ist nicht so, dass wir willkürlich das eine oder andere ausprobieren. Meist ist alles generalstabsmäßig geplant. Die Anreise des Regisseurs, die Termine der Proben und die Aufführungen.
Aber zu dem Zeitpunkt stehen noch nicht alle Figuren fest?
Beide: Nein.
Also bleibt schon ein bisschen Zeit, die Figuren anzupassen?
Charlotte: Wir haben etwa sechs Wochen Vorbereitungszeit, wobei wir uns davor bereits sporadisch treffen und das Stück besprechen. Die eigentliche Basis wird in den ersten drei Wochen gelegt. In den drei Wochen vor der Premiere werden die Abläufe dann verfeinert. Diese Zeiten legen wir lange im Voraus fest.
Michael: Man muss hier schon radikal sein. Die Gefahr besteht – auch bei Puppenspielern – vor dem eigentlichen Problem davonzulaufen. Man stellt fest, dass auf der Bühne etwas nicht funktioniert und läuft in die Werkstatt, um das Problem dort zu lösen. Und dann baut man mal wieder fünf Stunden.
Es gibt aber Phasen, in denen ich intensiver baue. Für Exit habe ich zwei Jahre lang an den Puppen gearbeitet. Wir hatten uns oft getroffen und das Stück besprochen, wodurch dieser Kosmos so dicht wurde, dass wir die Proben innerhalb von zwei Wochen abschließen konnten. Natürlich ist das ein Idealzustand.
Charlotte: Eine Rolle spielt natürlich auch, mit wie vielen Leuten man spielt. Je mehr Leute an einem Stück beteiligt sind, desto stärker muss man sich untereinander abstimmen. Das kann man vorab nicht immer planen.
Entsteht die Musik auch schon vorher?
Charlotte: So weit man das planen kann schon, aber es würde mir nicht einfallen, schon vorher etwas zu komponieren. Aber eine Idee in welche Richtung es gehen und welche Instrumente man nehmen könnte, die habe ich schon.
Krabat ist ja eigentlich ein Jugendstück. Wir wollten, dass es nach einem Musical klingt, dass es Popsongs enthält.
Wie entscheidest du, welche Instrumente du nimmst?
Charlotte: Das sind künstlerische Prozesse. Wie entschiedet man das? Das ist schwer zu sagen. Bei dem Stück Exit war es einfach. Wir waren uns einig, dass wir etwas Raues und Rockiges im Stück haben wollten. Also wählten wir eine E-Gitarre. Bei dem Stück Toccata über Robert Schumann lag die Idee zugrunde, anzuspielen auf ein Instrument, das zu Schumanns Zeit modern war: der Pedalflügel. Ein Klavier, das nach Orgel klingt. Daraus wurde dann bei uns die Hammond-Orgel.
Ein Klavier war uns einfach zu naheliegend. Bei Krabat war die Idee, dass es Lieder geben muss. Es ist ja eigentlich ein Jugendstück. Wir wollten, dass es nach einem Musical klingt, dass es Popsongs enthält.
Also gibt die Zeit in der das Thema oder die Geschichte spielt die Instrumente vor?
Charlotte: Wir beziehen uns in der Arbeit ja alle auf das Thema, die Geschichte. Beim Spiel ist das was anderes. Die Musik entsteht im Zusammenspiel mit den Figuren.
Ihr habt ein sehr gutes Timing.
Charlotte: Das liegt natürlich daran, dass wir alle zusammen proben. Es ist nicht so, dass es eine Probe mit Spielern gibt und die Musik kommt dann erst zwei Wochen vor der Premiere dazu, sondern wir fangen eben zusammen an. Das heißt, es beziehen sich auch wirklich alle aufeinander. Das ist ein großer Unterschied zu anderen Produktionen, bei denen der Musiker erst später hinzukommt. Das hat natürlich auch Kostengründe.
Wie seid ihr denn nach Leipzig gekommen?
Michael: Wir hatten eine Einladung von Jürgen Zielinski – dem Intendanten des Theaters der Jungen Welt – eine Ausstattung und Musik zu machen für eine Kollegin, die Regie führte. So sind wir das erste Mal in Leipzig gelandet, kannten hier niemanden. Es gab hier ein Figuren-Theater Festival, wo wir aber nie gespielt hatten. Wir waren während der Schulzeit einmal hier um ein Konzert zu spielen. Das war vielleicht eine Woche nach dem Mauerfall.
Und dann kamen wir erst wieder 2002, als wir im Theater der Jungen Welt gespielt haben und in einer Gästewohnung auf der Karl-Heine-Strasse wohnten. Wir sind dann immer auf das Jahrtausendfeld zum Spielzelt oder zur Jungen Welt hinüber gelaufen.
Und da schien die Sonne auf die Fassade unseres jetzigen Westflügels.
Das Gebäude sah von aussen nicht besonders aus, aber es hing ein verblichener Zettel am Eingangstor, mit einer Faxnummer und an die man sich bei Interesse wenden könnte.
Wir sind damals überall in Deutschland herumgefahren und haben überlegt, wo ein schöner Ort zum Leben sein könnte.
Charlotte Altes Ballhaus stand dran.
Michael: Ich habe den Zettel dann mitgenommen
Charlotte: Du musst sagen, dass wir zu der Zeit schon ein bisschen auf der Suche waren. Wir lebten zu dieser Zeit bereits viele Jahre in Stuttgart, was zwar ein tolles Pflaster für Figurentheater ist, aber auf der anderen Seite auch ein wenig gesättigt. Wir hatten zu der Zeit daher ein Interesse daran wegzugehen.
Michael: Stimmt, wir sind damals überall in Deutschland herumgefahren und haben überlegt, wo ein schöner Ort zum Leben sein könnte. Wir hatten nicht unbedingt etwas gesucht, wo wir auch arbeiten könnten. Wir suchten eigentlich einen Probenraum und Lagerraum und von dort wollten wir dann los in die Welt.
Charlotte: An Leipzig interessierte uns, dass es bislang kaum Figurentheater gab. Es gab ja nur das kleine Festival und 2 Figurenspieler am Theater der Jungen Welt. Aber für so eine große Stadt war das wenig.
Michael: Als wir dann zum ersten Mal den Westflügel betraten, kam uns das Haus eigentlich viel zu groß vor. Was sollten wir hier proben? Da musst du doch gleich Stücke zeigen und Leute reinlassen. Aber eigentlich wollten wir uns nicht solch ein Haus ans Bein binden. Wir sind damals zu René Reinhardt und Jörg Schulz von der Schaubühne gegangen, die wir zu diesem Zeitpunkt auch noch nicht kannten, und haben über das Haus gesprochen.
Charlotte: Die waren super offen. Und das war auch sehr wichtig. Interessanterweise haben sie uns nicht als Konkurrenz gesehen und wollten uns loswerden, sondern sie hatten im Gegenteil Interesse daran uns hierher zu locken. Das fand ich toll. Die kannten uns ja auch noch nicht.
Michael: René schlug dann vor das Haus mal für einen Abend zu öffnen, sozusagen als Installation. Daraus wurden dann die Ballhausabende. Der erste Ballhausabend war sensationell. Es kamen Besucher aus Berlin und Stuttgart, und es wurde ein super Treffpunkt für Spieler.
Charlotte: Diese Ballnächte haben wir 2003, ’04 und ’05 gemacht. Und parallel lief die Geschichte mit der Schaubühne, die versuchten ihr Haus zu kaufen. Das stand immer auf der Kippe und wir wußten, wenn das nicht klappt, dann wird das bei uns auch nichts. Alleine können wir das hier nicht stemmen.
Michael: Die Gegend sah ja noch nicht so aus, als würden hier jemals Menschen leben. Man kann sich das heute kaum vorstellen, aber damals war es ein großes Abenteuer.
Charlotte: Als es dann mit der Schaubühne klappte mussten wir uns entscheiden, ob wir aufhören oder einen richtigen Spielplan starten. Nicht nur für ein Wochenende, sondern für ein ganzes Jahr.
Und dann habt ihr den Verein Westflügel gegründet?
Charlotte: Den Verein haben wir 2005 gegründet. Wir haben dann zum ersten und letzten Mal Geld von der Kulturstiftung des Bundes bekommen. Das war unsere Startramp für den ersten SommerSpielPlan 03.
Und dann habt ihr euch auch entschlossen nach Leipzig zu ziehen?
Charlotte: Zu Anfang hatten wir noch zwei Wohnsitze, da wir nach wie vor viel in Stuttgart gearbeitet haben. 2008 haben wir unser erstes Kind bekommen. Da war dann klar, dass wir uns entscheiden müssen. Wir sind dann ganz nach Leipzig gekommen und wohnten im Pfarrhaus an der Philippuskirche, aus dem wir letztes Frühjahr ausziehen mussten.
Seid ihr nicht auch ein bisschen froh, dass ihr nicht mehr gegenüber vom Aurelienbogen wohnt? Jetzt, wo dort alles neu gebaut und verändert wird.
Charlotte: Ach, das ist relativ. Als das erste Haus saniert wurde, fand ich es eigentlich ganz schön, dass dort jetzt Licht an ist. Wenn alles verfallen wäre, wäre es auch schade gewesen.
Ich finde es toll mitzuerleben, was hier gerade passiert. Es gäbe keinen einzigen Laden oder Restaurant, wenn hier nicht auch Menschen leben würden.
Michael: Ich habe Jahre auf das verfallene Haus geschaut, durch dessen Dach in der Nacht der Mond schien. Das war beinahe zu romantisch. Wer dort wohl gewohnt hat, wie viele Weihnachten dort wohl gefeiert wurden? Ein paar Monate später ist dann plötzlich wieder Licht an und Leute laufen in den Zimmer umher. Sollte man ein solches Haus retten, oder nicht? Ich finde es toll mitzuerleben, was hier gerade passiert. Es gäbe keinen einzigen Laden oder Restaurant, wenn hier nicht auch Menschen leben würden. Ich möchte in diesem Viertel auch nicht alleine sitzen. Als wir hierher kamen, da war es nachts auch nicht nur toll. Damals gab es Straßenkinder, die haben wir dann manchmal hier ins Theater eingeladen. Das waren richtige Gören, die hatte ich schon auch lieb gewonnen. Die sind plötzlich weg. Das macht mich auch traurig.
Charlotte: Aber die alte graue Frau, die es hier im Viertel gibt, die habe ich gerade noch gesehen, die ist noch da.
Michael: Ja, da gibt es wahrscheinlich viele Geschichten. Im Nachbarhaus gab es einen Mann, der immer einen Handkarren dabei hatte, um sein Holz zu holen. Der ist jetzt auch weg. Wir versuchen die Spuren der vergangenen Zeit hier am Haus zu bewahren, indem wird nicht alle Wände überstreichen. Woanders erscheint mir die Zeit wie weggekehrt. Sie ist nicht mehr erlebbar.
Hat sich das Publikum bereits verändert?
Charlotte: Es hat sich schon verändert. Aber nicht in negativer Hinsicht. Wir wissen natürlich nicht genau, ob wir mehr Publikum haben weil hier mehr Menschen wohnen, oder weil es sich herumgesprochen hat, dass hier ein tolles Theater ist. Die Menschen die früher hier wohnten, sind nicht ins Theater gegangen. Jetzt schneien ab und zu Leute herein, die neugierig sind. Die bleiben dann und trinken etwas. Das hat sich schon verändert. Es kommen einfach mehr Leute.
Michael: Man muss den Dingen aber auch Zeit geben. Ich habe einmal gelesen, dass Schauspieler im Schnitt erst nach zehn Jahren wirklich davon leben können. Man darf nicht zu früh aufgeben. Jetzt endlich habe ich das Gefühl, dass man nicht mehr permanent schieben muss. Ab und an kommt auch einmal etwas hinein geschwappt. Das tut gut. Damit lassen sich dann auch die kleinen Katastrophen und Angriffe überstehen, Steuern bezahlen und all die Gesetze und Vorgaben befolgen, auf die man sich mit so einem Theater einlässt.
Charlotte: Beispielsweise die Geschichte mit den Stellplätzen. Da mussten wir damals fast zumachen. Als öffentliches Haus hast Du die Auflage, eine bestimmte Anzahl an Stellplätzen vorzuweisen. Da kamen bei uns elf Plätze heraus. Da wir die nicht haben, müssen wir sie "ablösen", das heisst viel Geld dafür bezahlen. Im Sommer 2012 wurde die gestundete Summe von 45.000 Euro plus Stundungszinsen fällig.
Michael: Letztlich frisst das alle Energie, die eigentlich für das Theater vorgesehen ist. Soll ich mich darüber ärgern? Kein Mensch bekommt davon etwas mit. Die Stellplätze sind ja rein virtuell.
Alle haben gefragt, ob der Raum Einfluss hat, ob sich etwas verändert. Und ich war dann erstaunt, dass sich nicht mit einem Schlag etwas verändert hat.
Ich habe auch den Eindruck, dass Parkplätze eine neue Währung werden.
Michael: In Stuttgart hat gerade jemand einen Garagenstellplatz für 100.000 Euro gekauft. Da fragt man sich schon, wo das noch hingehen wird? Bei all dem Ärger den man mit der Stadt haben kann muss man aber fairerweise sagen, dass unser Haus auch dadurch funktioniert, dass sich Leipzig in den letzten Jahren so entwickelt hat.
Charlotte: Das liegt aber nicht an der Stadt, das liegt an den Zuschauern. Und den Leute hier. Das liegt nicht an der Verwaltung. Ich glaube nicht, dass die Verwaltung schlechter ist als in anderen Städten, sie ist aber auch nicht besser. Viele Beamte haben größte Angst davor, etwas falsch zu machen und berufen sich daher auf die Paragraphen. Das ist dann zum Teil sehr mühsam.
Ihr kamt aus Stuttgart, wo alles recht eng und hektisch ist, nach Leipzig und habt den Raum, die großen Freiflächen erlebt. Hat sich das auf eure Arbeit kreativ ausgewirkt?
Michael: Spleen war das erste Stück, das wir hier gemacht haben. Alle haben gefragt, ob der Raum Einfluss hat, ob sich etwas verändert. Und ich war dann erstaunt, dass sich nicht mit einem Schlag etwas verändert hat. Was mich zu Anfang mehr erstaunt hat, war, wieviel ich eigentlich schon mitgebracht habe, was schon so aussah, als wäre es von hier gekommen. Das liegt vielleicht daran, dass sich die Wände meiner Werkstatt und Stuttgart und Leipzig sehr ähnlich waren.
In Stuttgart ist ja eigentlich alles sehr eng, jeder Millimeter wird genutzt. Hier gab es keine Fenster, es gab die große Weite, der Wind wehte überall durch. Überall war Platz und es stand einem sozusagen die die ganz Welt offen.
Aber das Stück Spleen wurde über die Probenzeit bis zur Premiere hin immer fokussierter. Das Bodenstück war zu Beginn 6 × 8 Meter groß. Jetzt sind es 2 × 2 Meter. Man hat diese ganze Weite, die dich letztlich aber dazu bringt, dich immer weiter zu fokussieren.
Charlotte: Aber später haben wir dann auch Stücke gemacht, die im ganzen Raum spielen.
Michael: Ja, später dann. Aber auch ganz anders.
Charlotte: Ich bin sicher, dass wir in dem was wir machen ganz frei sind, weil wir hier diesen Ort haben. Vorher hatten wir ja nicht unser eigenes Theater, nicht unseren eigenen Raum. Wir mussten immer fragen, ob wir ein Stück zeigen dürfen. Obwohl die Zusammenarbeit meist sehr vertrauensvoll ist, bist du immer in einer Bittstellerposition. Hier können wir tun was wir möchten. Das ist unglaublich viel wert, weil man dadurch auch eine andere Haltung entwickelt. Wir können frei entscheiden. Natürlich müssen wir auch an die Finanzierung denken. Diese ganzen Nöte nimmt dir keiner ab. Aber wir müssen uns künstlerisch nicht mit anderen Leuten absprechen. Und dadurch trauen wir uns auch mehr. Bei Krabat zum Beispiel sind fünf Spieler beteiligt Das war zu Beginn als Kinderproduktion geplant. Wir dachten, wir spielen das Stück in Leipzig, in Stuttgart und vielleicht auch einmal in Polen. Aber das sei es dann auch. Du kannst eigentlich mit solch einem Stück nicht auf Tour gehen. Das wird zu teuer, das lädt keiner ein. Und trotzdem haben wir es gemacht. Weil wir hier den Raum hatten, mit den unzähligen Möglichkeiten. Es ist schließlich ganz anders gekommen. Wir spielen Krabat ja immer noch an ganz unterschiedlichen Orten.
Aber es sich zu trauen, ein solches Stück umzusetzen, ohne Angst davor zu haben, nicht eingeladen zu werden und kein Geld damit zu verdienen, macht wahnsinnig viel aus. Insofern hat der Ort doch einen sehr großen Einfluss auf die künstlerische Arbeit. Aber nicht im Stil. Das ist ja etwas, was man aus sich selbst schöpft, das hat mit dem Raum selbst nicht so viel zu tun.
Michael: Der Westflügel ist zwar klein, aber im Gegensatz zu vielen anderen Theatern wächst das hier ja stetig. Wohin wächst das, was für eine Struktur bildet sich? Theater sind ja sehr hierarchisch organisiert. Meist werden sie von einem Intendanten geführt und die Schauspieler finden sich ganz unten wieder. Das sind manchmal kleine Diktaturen. Und das finde ich hier spannend. Ich kann noch gar nicht sagen, was sich hier bilden wird.
Charlotte: Das ist ein riesengroßes Feld, wie fallen hier Entscheidungen. Wir arbeiten hier ja nicht alleine. Aber ich glaube, die anderen fühlen sich auch frei. Und das ist natürlich auch eine total glückliche Konstellation.
Ihr spielt in vielen verschiedenen Ländern, wie sucht ihr die Stücke aus, die ihr dort spielt?
Charlotte: Manchmal werden wir mit einem bestimmten Stück eingeladen, manchmal suchen wir Stücke aus von denen wir glauben, dass sie an den jeweiligen Orten funktionieren. Sehr häufig sind das dann unsere Zweierstücke, weil das sonst oft nicht zu finanzieren ist.
Aber auch, weil wir da am wenigstens sprechen. Je mehr Spieler auf der Bühne stehen, desto mehr Text hat das Stück. Da gibt es mehrere Dinge, die man bedenken muss. Die Sprache, das Publikum. Taugt das Stück für eine Tour? Das Stück Spleen spielen wir oft wenn wir weit weg sind. Da haben wir Ton und Licht selbst dabei und müssen nicht zittern, ob wir Licht bekommen.
Man kann Einiges lernen, wenn man Stücke für Erwachsene vor Kindern spielt und umgekehrt.
Wieviele Auftritte spielt ihr im Jahr?
Charlotte: Ungefähr 70. Es gibt dann auch Phasen, in denen wir wenig spielen. Im Sommer zum Beispiel. Da proben wir dann oft. Wir versuchen auch mehrfach zu spielen wenn wir an einem Ort sind, damit wir den Auf- und Abbau nur einmal machen müssen.
Michael, du hast vorhin gesagt, dass du sehr gerne vor Kindern spielst. Ist das ein großer Unterschied vor Kindern oder vor Erwachsenen zu spielen? Was macht den Unterschied aus?
Michael: Ja, ist ein großer Unterschied. Wenn Erwachsene das Stück nicht akzeptieren, dann bleiben sie trotzdem still sitzen und ich habe eine längere Spanne sie zur Puppe hinzuziehen, sie dafür zu gewinnen. Das macht auch oft Spass im Erwachsenenspiel. Bei Kindern kann ich mir gar nicht so viel Zeit nehmen. Da muss es viel direkter passieren. Sonst werden die Kinder unruhig und oftmals haben sie auch gar nicht unrecht. Man kann Einiges lernen, wenn man Stücke für Erwachsene vor Kindern spielt und umgekehrt. Wenn man oft vor Erwachsenen spielt, verschlampt man ein wenig. Die Kinder putzen dich dann wieder.
Erwachsene sind im Theater oft unendlich höflich. Kinder sagen dir sehr schnell: »So nicht.« Ich weiß noch genau, bei einer Vorstellung von Maria auf dem Seil kam ein kleiner Buchsje zu mir, vielleicht sechs Jahre alt, und sagte: »Mit dem einen Zaubertrick, das ist ja ganz lustig, aber wenn du nicht beide Male die gleiche Zeitung nimmst, dann sieht man ja, dass das nicht die gleiche ist.« Das hat der Regisseur nicht gesehen und wir auch nicht. Das ist schon klasse.
Es gibt Schauspieler bei denen man erkennt, dass sie niemals für Kinder gespielt haben. Die sonnen sich in ihrem Licht und und jedes Kind würde sagen: »Das sind des Kaisers neue Kleider, was soll das denn jetzt hier?«.
Ich war schon in Stücken für Kinder und in Stücken für Erwachsene, mir ist nicht aufgefallen, dass du die Figuren anders spielst.
Charlotte: Wir machen keine Abstriche in der Art und Weise, wie wir für Kinder oder Erwachsene spielen. Auch nicht in der Ästhetik. Nur die Art und Weise, wie man mit dem Publikum spricht, die Struktur des Stückes, die unterscheidet sich. Beim Hobbit wird das Publikum sehr oft direkt angesprochen. Auch in der Form muss man keine Abstriche machen, man ist nur sehr viel direkter. Zum Beispiel kann man kein Schattentheater machen, wenn die Schauspieler immer hinter der Wand sind, das geht bei Kindern nicht.
Michael: Es ist eine sehr europäische oder deutsche Art, zwischen Stücken für Kinder und Stücken für Erwachsenen zu trennen. Es gibt Länder, in denen das viel gemischter ist.
Charlotte: Aber nicht immer zum Vorteil für die Stücke, wenn sie zu sehr zu einem Jahrmarkt verkommen.
Michael: Wir machen hier das Angebot, dass man ein Stück für Kinder auch abends zeigt, so dass dann die ganze Familie sich das anschauen kann. Ich wurde von meinen Eltern schon als kleiner Knirps mit in die Oper genommen und ich fand das ganz toll. Meine Eltern haben mich nicht in 11-Uhr-Kinder-Belustigungs-Stücke gesteckt. Ich fand mich nicht unter- oder überfordert, sondern ich fand den gemeinsamen Ausflug toll. Ich habe das natürlich nicht alles verstanden was in der Oper passierte, aber es war trotzdem interessant. Ich weiß nicht, wieso das so getrennt wird bei uns. Wieso es spezielle Kinderstücke geben muss.
Habt ihr denn noch Zeit selbst ins Theater zu gehen?
Michael: Gerade haben wir mal wieder Karten bestellt fürs Schauspiel.
Charlotte: Wir sehen natürlich die Stücke im Westflügel. Da sind oft auch Stücke von Kollegen dabei, die wir noch nicht kennen. Da sind ja sehr oft tolle Spieler dabei, die wir einladen.
Info
Charlotte Wilde studierte in Karlsruhe Musik, Englisch und Geschichte. Sie bearbeitet, komponiert und spielt die Musik (Geige, Gitarre, Tasteninstrumente) für das Figurentheater Wilde & Vogel und andere Theater und ist verantwortlich für die Organisation. Michael Vogel lernte in Prag bei Milos Kirschner und dem „Spejbl & Hurvinek Theater“ und studierte in Stuttgart an der Hochschule für Musik und darstellende Kunst Figurentheater. Von 1998 bis 2006 hatte er einen Lehrauftrag im Studiengang Figurentheater Stuttgart.Credits
- Das Interview führte Petra Mattheis
- Fotos von Regentaucher