Steffen Balmer während des Westbesuchs in Leipzig Plagwitz

Wir haben das ganze Konfetti rausgeschossen und jetzt steht man da und das Konfetti ist auch weg.

Steffen Balmer

Steffen Balmer ist Mitbegründer und Organisator des Westbesuchs, das seit 2006 als Straßenfest mehrmals jährlich auf der Karl-Heine-Straße stattfindet.

Er kam 1980 nach Leipzig, um Philosophie zu studieren und unterbrach sein Studium, als er 1987 einen Ausreiseantrag stellte. Er absolvierte eine Ausbildung als Industriefotograf und als Cutter. Nach der Wende war er einer der ersten Studenten des neuen Medienkunstbereichs an der Hochschule für Grafik und Buchkunst. 2009 studierte er Informatik. Er lebt freiberuflich im Leipziger Westen.

T-Shirt mit dem Schriftzug 'Glück', das auf dem Westpaket zu kaufen war.
Die »Hohen Worte« behalten ihre Relevanz auch als Motiv für T-Shirts, die man beim letzten Westpaket erwerben konnte.

Seit wann lebst du im Leipziger Westen?
1999 bin ich nach meinem Studium nach Schleußig in die Hohlbeinstraße gezogen. In der Fabrik lebe ich noch immer. Noch. Das Thema ist gerade sehr brisant, da das Gebäude kernsaniert werden soll und im Zuge dessen allen Bewohnern gekündigt wurden.

Wie entstand die Idee für den Westbesuch?
Die ursprüngliche Idee entstand aus der Zusammenarbeit mehrerer Akteure auf der Karl-Heine-Straße, insbesondere mit René Reinhardt und der Schaubühne Lindenfels. Ich habe damals im ursprünglichen Noch besser leben die Konzerte organisiert. Insgesamt waren wir damals zwölf bis fünfzehn Leute, die das Projekt dann konkret planten und realisierten. Damals gab es hier ja noch gar nichts. Es gab die Schaubühne, das Noch besser leben, das Delikatessenhaus und ein, zwei weitere Galerien auf der Karl-Heine-Straße. Ich glaube es war die Galerie Sommer und später die Galerie KO. Einige der Organisatoren kamen aus der Hohlbeinstraße, aber ansonsten war hier wenig los. Damals war der Stadtteil ab der Zschochersche Straße eine ziemlich dunkle Ecke. René hat uns damals zusammengerufen und uns gefragt, ob wir etwas gemeinsam auf die Beine stellen wollen. Und dann 2005, ging die Planung und Konkretisierung unserer Ideen los.

Gab es von Anfang an auch die Idee, einen Flohmarkt zu organisieren?
Der Flohmarkt selbst ist eigentlich gar nicht der Hauptgedanke des Westbesuchs. Wir sehen und beschreiben diesen auch in unseren Konzepten als Bindeglied zwischen den verschiedenen Kulturorten und Akteuren. Aber natürlich hat das Westpaket eine hohe Präsenz auf der Straße und daher liegt es nah zu denken, der Westbesuch sei ein Flohmarkt.

Es gibt ja die Namen Westbesuch und Westpaket? Ich habe das immer so verstanden, dass das Westpaket der Flohmarktteil ist und der Westbesuch die Veranstaltungen umfasst.
Ja, das ist richtig. Wobei uns der kulturelle Teil, die Veranstaltungen, Aktionen und Konzerte sehr am Herzen liegen.

Es ging darum, die DDR-Erinnerung wachzuhalten. Man bekam ja früher Westbesuch oder erhielt Pakete aus dem Westen.
Kiste mit allerlei Habseligkeiten, die kostenlos zu haben waren.
An den zahlreichen Ständen auf der Karl-Heine-Straße gibt es ganze Welten zu kaufen.
An den zahlreichen Ständen auf dem Westpaket gibt es ganze Welten zu kaufen.
Der Flohmarkt mit dem Namen »Westpaket« ist nur ein Teil der Gesamtveranstaltung »Westbesuch«.
Der Flohmarkt mit dem Namen »Westpaket« ist nur ein Teil der Gesamtveranstaltung »Westbesuch«.

Wie habt ihr die Namen denn gewählt?
Bei der Namensgebung schwang wohl auch etwas Nostalgie mit und irgendwie ging es auch darum, die DDR-Erinnerung wachzuhalten. Man bekam ja früher Westbesuch und es war immer eine sehr große, freudige Überraschung, wenn man Pakete aus dem Westen erhielt. Wir fanden den Namen passend, da die Menschen ja zu Besuch in den Leipziger Westen kommen und die Pakete das sind, was man auf der Straße austauscht.

Der erste Westbesuch war dann im Jahr 2006. Seitdem hat sich ja sehr viel verändert. Was sind für dich die eindrücklichsten Veränderungen? Was hat der Westbesuch erreicht?
Ganz am Anfang 2006 gab es hier auf der Straße ja noch sehr viele Geschäfts- und Wohnungsleerstände. Das hatte sich dann innerhalb von zwei, drei Jahren verändert und eine anhaltende Entwicklung hat die Straßen so belebt, wie wir sie heute kennen.

Vor allem am Abend sind viele Menschen unterwegs. Auch das Westwerk hat sich auch ganz toll entwickelt, seit Peter Sterzing hier ist, mit dem wir sehr gut zusammenarbeiten.

Es gibt immer mal kleinere Projekte und Ideen, die sich nur schwer umsetzen ließen. Beispielsweise den Westbesuch-Garten, bei dem wir Baumpaten für die Baumscheiben suchten, auf denen die Bäume der Karl-Heine-Straße gepflanzt sind. Hier gab es Schwierigkeiten mit dem Grünflächenamt, da auf diese Flächen keine Pflanzen gesetzt werden dürfen, da diese angeblich den Bäumen das Wasser wegsaufen. Dadurch ist das Projekt ins Stocken geraten und später haben wir es dann nicht mehr weiterverfolgt.

Auch haben wir überlegt, den Brunnen auf dem Karl-Heine-Platz zu reparieren, dem ehemaligen Knochenplatz. Würden sich mehr Menschen für solche Projekte engagieren, dann könnte man diese auch optimaler umsetzen. Zu dritt oder viert ist das im Augenblick nicht möglich.

Erfolgreich waren wir mit unserem Engagement für die Strassenbahn der Linie 14. Diese sollte vor drei Jahren abgeschafft werden und fährt heute sogar mit einer kürzeren Taktung. Mit der Stadtverwaltung und Ämtern sind wir auch von Anfang an in sehr gutem Kontakt. Das müssen wir auch, denn in diesen Sommer möchten wir zum Westbesuch die Karl-Heine-Straße sperren lassen.

Das war unser schönster Westbesuch, im Sommer 2010. Da war die Straße aufgrund einer Baustelle gesperrt und man konnte auf der Straße sitzen.
Damals war das möglich, weil die König-Albert-Brücke saniert wurde. Wir denken und hoffen, dass das jetzt auch möglich sein muss. Aber der Westbesuch muss mit sehr vielen Beamten und Ämtern verhandeln. Mit dem Ordnungsamt, dem Verkehrsamt, mit den Leipziger Verkehrsbetrieben und mit der Branddirektion Leipzig. Im Moment sieht es gut aus.

Ein zu verkaufendendes Fahrrad auf dem Westpaket in der Karl-Heine-Straße in Leipzig-Lindenau.
Blick in die große Halle des Westwerks in Lindenau.
Die große Halle des Westwerks ist seit mehreren Jahren Teil des Westbesuchs.
Trödelstände in der großen Halle des Leipziger Westwerks.
Man findet dort zahlreiche Trödelstände, handgefertigte Produkte und Antiquitäten.

Eine weniger schöne Veränderung ist die zunehmende Menge an Müll und die Unmengen zerbrochenen Glases, die morgens auf der Karl-Heine-Straße herumliegen. Von den Nächten, gerade auch am Wochenende. Das finde ich gar nicht gut und irgendwie auch Besorgnis erregend.

Ja, das ist uns auch aufgefallen, jetzt sind ja auch leider die Telefonzellen abmontiert, die auf dem Westpaket immer als Umkleidekabinen benutzt wurden, die sind auch immer böse malträtiert worden.
So etwas kennt man ja schon, wenn sich sozialräumliche Situationen entwickeln, wenn der Verwertungsprozess auf einmal wieder in Gang kommt. Die aktuellen und typischen Veränderungen sind so, dass unter anderem die Initiatoren zum Teil aus dem Stadtteil verdrängt werden. Das ist auch eine Entwicklung, die man gerade bei den Nachbarschaftsgärten und dem Anna Linde Garten gut beobachten kann. In den Nachbarschaftsgärten will der Besitzer Stadthäuser bauen und das Gelände von Anna Linde hinter dem Alten Felsenkeller soll in Kürze verkauft werden. Der Verein bekam letztes Jahr noch finanzielle Förderungen für ihr Projekt und jetzt auf einmal will die Stadt schnellstmöglich das Grundstück verkaufen.

Die Stadt hat Anna Linde noch Gelder gegeben?
Ja, über den Verfügungsfond des Leipziger Westen.

Und jetzt soll das Gelände geräumt werden?
Ich hatte im Februar ein Gespräch mit den Mitarbeitern vom Stadtteilladen.

Mir tut meine eigene Blauäugigkeit weh oder leid. Wir hätten gleich eine andere Richtung einschlagen sollen.
Aufruf zum Erhalt der Nachbarschaftsgärten.
Die Gartenflächen der Nachbarschaftsgärten sind Treffpunkte und Orte des Austauschs einer aktiven Nachbarschaft.
Aufruf zum Erhalt der Nachbarschaftsgärten.
Diese ehemaligen Brachen sollen aufgrund der gestiegenen Attraktivität des Viertels nun verkauft werden. Auch beim Westbesuch wird nun für deren Erhalt demonstriert.

Das wollte ich erst später fragen, aber jetzt passt es gerade so gut. Bereust du, die Geister gerufen zu haben? Der Westen ist jetzt besser besucht, mit dem Nebeneffekt, dass Initiatoren der Stadtteilentwicklung nun von hier verdrängt werden.
Bereuen? Grundsätzlich nicht. Aber mir tut meine eigene Blauäugigkeit weh oder leid. Dass ich so etwas nicht mit beachtet habe. Wir hätten gleich eine andere Richtung einschlagen sollen.

Wir arbeiten seit zwei Jahren an einem neuen Konzept, was insbesondere der Westbesuch nun grundsätzlich in dieser Situation tun kann. Diese Entwicklung ist anfänglich ganz schwer zu definieren. Man kann ja ähnliche Prozesse und vor allem die Art der kritischen Reaktionen nicht von Berlin oder Hamburg abgucken. Man muss ein eigenes kritisches Gegenkonzept im eigenen Viertel entwickeln. Das haben wir in den letzten Jahren versäumt und jetzt ist es fast schon zu spät.

Aber grundsätzlich tut es mir nicht leid. Wir möchten mit dem Westbesuch auf diese Entwicklung hinweisen und versuchen, für Anwohner und Betroffene ein Bewusstsein für diesen Verwertungsprozess zu schaffen. Wir treffen uns unter anderem mit den Mitgliedern des Bündnis Stadt für alle und allen, die sich betroffen fühlen oder aktuell betroffen sind. Auch der Stadtteilladen ist ein guter Partner in dieser Diskussion. Wir haben zum sommerlichen Westbesuch Katrin Rohte eingeladen, die den spannenden und kritischen Dok-Film Betongold gedreht hat. Wir sind sehr gespannt, was wir bewegen können. Der Westbesuch in diesem Sommer, in diesem Jahr steht unter anderem unter dem Zeichen der Veränderung, des Wandels und der Verdrängung. Sowohl nach Innen und nach Außen.

Warum wolltet ihr damals die Gegend beleben?
Zum einen, weil wir hier wohnen, leben und arbeiten, unsere Ateliers und Wohnungen hier haben und weil es viel schöner und angenehmer ist, wenn man die Freunde und Kollegen kennt, die hier ebenfalls leben. Zum anderen ist es natürlich sehr spannend, die Möglichkeiten der Industriebauten als Werkstatt und Wohnung auszuloten. Diese speziellen Räumlichkeiten im Leipziger Westen bieten einen großen Gestaltungsspielraum und ermöglichen insbesondere alternative Wohnkonzepte zu realisieren. Der Verlust dieser Freiräume ist mit Geld nicht zu entschädigen.

Bei gutem Wetter kommen über den Tag verteilt etwa 10.000 Besucher. Und wenn das Wetter nicht so gut ist, dann kommen vielleicht 6.000.
An den zahlreichen Ständen auf der Karl-Heine-Straße gibt es ganze Welten zu kaufen.
Der Flohmarkt mit dem Namen „Westpaket“ ist nur ein Teil der Gesamtveranstaltung „Westbesuch“.

Dachtet ihr damals, ihr macht Veranstaltungen und Aktionen und animiert so die Menschen, auch hierher zu ziehen?
Zu Beginn fand der erste Westbesuch das einzige Mal an zwei Tagen statt. Am Sonntag hatten wir noch eine Podiumsdiskussionen und kleinere Veranstaltungen. Aber wir haben schnell gemerkt, dass die Luft für den zweiten Tag fehlte und haben diese Idee in den anschließenden Jahren nicht weiter verfolgt.

Ab 2007 hattet ihr dann schon so viele Veranstaltungen, dass es für mehrere Tage im Jahr gereicht hat. Auf diese Weise habt ihr den Menschen auch einen Grund gegeben, in den Westen zu ziehen habt. Habt ihr jemals darüber nachgedacht, wie das werden könnte? Du erwähntest, dir tue deine eigene Blauäugigkeit leid?
Obwohl es schon so zahlreiche exemplarische Situationen in anderen Städten gab und gibt, haben wir damals nicht daran gedacht. Beim ersten Westbesuch 2006 gab es vielleicht zwanzig, dreißig Stände, ein paar Ausstellungen auch in leerstehenden Läden, ein Abendkonzert und vielleicht fünfhundert Besucher. Bereits im folgenden Jahr war dann schon Betrieb auf der ganzen Straße. Das Kultur- und Straßenfest Westbesuch hat sich in ganz Leipzig schnell herumgesprochen, jetzt haben wir den Salat.

Wie viele Besucher kommen denn mittlerweile?
Das ist ein bisschen Wetterabhängig, aber bei sonnigem Wetter kommen über den Tag verteilt etwa 10.000 Besucher. Und wenn das Wetter zu wünschen übrig lässt, dann kommen nur etwa 6.000.

Das Fest ist das Beste was der Stadt für die Aufwertung des Viertels hätte passieren können.
Vater und Sohn während des Westpakets auf der Karl-Heine-Strasse in Leipzig.
Mutter und Tochter während des Westpakets auf der Karl-Heine-Strasse in Leipzig.
Vater und Sohn während des Westpakets auf der Karl-Heine-Strasse in Leipzig.
Eine Besucherin des Westpakets auf der Karl-Heine-Strasse in Leipzig.

Ja, wir wissen mittlerweile, dass wir mit schlechtem Wetter rechnen müssen, wenn Westbesuch angesagt ist. Es gab ja ein Jahr, da hat es an jedem Termin geregnet oder geschneit.
Wettermäßig können wir nur wenig machen, soweit reichen die Beziehungen noch nicht, aber wir arbeiten daran. Bei den zwei Terminen im letzten Jahr war das Wetter jedes mal super. Auch brauchen wir manchmal eine kleine Pause, um nicht nur organisatorisch unterwegs zu sein, sondern um an den Konzepten zu arbeiten und damit auch wir uns mit dem Wandel wandeln können. Daher gab es 2013 nur zwei Termine.

Wie hoch ist der Arbeitsaufwand für die Organisation des Westbesuchs? Müsst ihr viele Behördengänge einlegen?
In erster Linie gibt es wahnsinnig viele Anträge und unterschiedliche Behörden müssen informiert werden und ihr Einverständnis geben. Wenn alles passt, erhalten wir eine Sondergenehmigung und sind für einen Tag Hausherr auf der Karl-Heine-Straße. Ohne diese spezielle Genehmigung würden knapp 1.000 Euro nur an Gebühren für die Nutzung der Fußwege anfallen. Darüber hinaus gibt es sehr viele und andauernde Absprachen mit den Kulturorten auf der Straße, den Gastronomen aus nah und fern, mit den Akteuren und Künstlern und insbesondere mit Michael vom Underground, dem wir schon die schönsten Live-Konzerte zu verdanken haben. Michael ist für den Westbesuch einer der wichtigsten Mit-Gestalter, ihn möchten wir auf keinen Fall missen.

Wie rechnet die Stadt das ab?
Ich denke nach Quadratmetern. Die Kosten lägen bei zwischen 700 bis 1.000 Euro. Zum Glück unterstützt uns die Stadt in dieser Beziehung und wir zahlen nur ein kleines Geld. Das Kulturamt gibt uns ein Mal im Jahr auch noch etwas dazu.

Der Bürgermeister war auch schon zu einigen Straßenfesten da. Natürlich ist das Fest das Beste, was der Stadt für die Aufwertung des Viertels hat passieren können. Aber mal sehen, wie sie sich jetzt verhalten, wenn es etwas opportuner wird oder wenn wir ein paar Dinge fordern, die sicherlich nicht so bequem sein werden. Wenn wir sagen: »Jetzt bleibt auch mal am Ball und verschleudert nicht gleich alles, nur weil die Preise steigen«. Und bei vielen Projekten bedauern sie ja auch bereits, dass sie in der Vergangenheit verkauft oder nicht ihr Vorkaufsrecht geltend gemacht haben. Wie zum Beispiel bei dem Jahrtausendfeld.

Auch bei dem Grundstück von Anna Linde frage ich mich, ob bei dem Stadtplanungsamt die rechte Hand weiß, was die Linke tut.

Weil du gesagt hattest, ihr müsst euch um den Müll kümmern, wie läuft das?
Die Stadt übernimmt den An- und Abtransport. Wir müssen nur die Container und natürlich den Müll als solches bezahlen. Mittlerweile benötigen wir vier große Container, die am Ende knacke voll sind. 2013 hatte die Stadtreinigung Leipzig es versäumt, die Container anzuliefern. Das war natürlich eine Katastrophe.

Vielleicht müsste man über Alternativen nachdenken. Der Alkohol und die Bierflaschen sind schon ein Grund, warum am morgen danach auf der Karl-Heine-Straße so viel Müll und Glas zu finden ist. Vielleicht liegt das auch an den Getränkeläden. Dort versorgen sich die Leute für kleines Geld, gehen nicht in die Locations, sondern bleiben auf der Straße. Was ja für die Atmosphäre wirklich super ist und auf mich sehr viel Charm ausstrahlt.

Hier müsste man unter Umständen gemeinschaftlich eine Lösung finden. Das hat zwar nichts direkt mit dem Westbesuch zu tun, aber irgendwie gehört das auch dazu.

Wir haben 160 Plätze und bis zu 500 Anfragen.
Ein Antiquitätenhändler an seinem Stand.
Uwe Kissel an seinem Stand während des letzten Westpakets, an dem er Antiquitäten anbot.
Tasche mit dem Logo des Westbesuchs.
T-Shirts mit der Aufschrift 'Angst' die während des Westbesuchs erworben werden konnten.

Hattet ihr von Anfang Helfer, die euch unterstützt haben? Wenn ihr selbst Hausherr seid, was für eine Verantwortung übernehmt ihr denn für diesen Tag?
Wir haben Verantwortung dafür, dass natürlich alles ruhig und ohne Schaden für Leib und Leben der Besucher und Akteure abläuft, aber auch, dass die Haustüren frei bleiben, wie schon erwähnt, dass der Müll entsorgt wird und dass keine übermäßigen Mengen Alkohol ausgeschenkt werden. Zumindest dort, wo wir Einfluss darauf haben. Zum Glück ist ja noch nie etwas passiert. Aber wir übernehmen eine Grundverantwortung und mittlerweile haben wir eine Unfall- und Haftpflichtversicherung.

Ist das denn bezahlbar?
Dadurch, dass es insgesamt nur vier Tage pro Jahr sind, ist das finanziell vertretbar. Darüber hinaus gibt es natürlich für jeden Besucher, Akteur und Trödler auch eine Selbstverantwortung. Man sollte schon aufpassen, wenn man über die Straße geht. Auch haben wir immer Sanitäter an unserem Stand, die können sofort Hilfe leisten und die erste Notversorgung und für geringfügige Verletzungen kleine Pflästerchen verteilen. Als Veranstalter sind wir am Abend immer sehr glücklich, wenn alle Gäste wieder gut nach Hause gekommen sind oder eine Abendveranstaltung besuchen.

Es gibt einen kleinen Stamm von drei vier Helfern und Mitglieder, die immer mit dabei sind und bei allen Arbeiten mit anfassen und helfen. Je nach Aufwand und speziellen Ideen sind es mal mehr oder weniger Helfer. Vor ein paar Jahren haben wir alle Zelte, Bänke und Bühnen selbst aufgebaut, da waren wir schon am Vormittag geschafft. Dafür gibt es jetzt eine gute Truppe, die gegen ein gutes Honorar alle notwendigen Auf- und Abbauten organisieren. Seitdem ist es für die Planer und Organisatoren etwas entspannter.

Wir haben im Durchschnitt zwei Monate an Vorbereitungszeit und bekommen Unmengen E-Mails am Tag. Dieser Ansturm in der Hauptzeit ist kaum zu bewältigen. Hinterher frage ich mich immer, wie man das wieder geschafft hat. Schon allein für die Beantwortung der E-Mails würde es sich lohnen, jemanden einzustellen. Die Bands, die Konzerte, dann die Gespräche mit den Händlern vor Ort. Dann gab es vielleicht an einer Stelle das letzte Mal Ärger, ein Problem, und dann müssen wir überlegen, wie wir das diesmal besser machen.

Vor dem »Underground« steht meist eine Bühne, auf der Bands spielen.
Vor dem »Underground« gibt es eine Bühne für Aufführungen, auf der praktisch den gesamten Tag über Bands spielen.

Die Gastronomen sind eine ganz eigene Sorte von Akteuren, jeder möchte den größten Stand haben und verständlicherweise die meisten Besucher bei sich vorbei schleusen. Wir achten verstärkt darauf, dass die kommerziellen Stände nicht ausufern. Also gibt es auch da Verhandlungen. Das Auslosen der Plätze, wir haben ja nur 160 Plätze, vierzig Vereine, die untergebracht werden wollen und bis zu 600 Anfragen. Den gemeinnützigen Vereinen geben wir die Standplätze kostenlos, da es uns wichtig ist, deren Projekte zu unterstützen. Bleiben noch die Händler, deren Plätze sinnvoll verteilt werden müssen. Wir könnten das ganze Jahrtausendfeld mit Händlern vollstellen, und wenn die Gespräche mit der Stadtbau AG erfolgreich verlaufen, werden wir zum Westbesuch 2015 das Jahrtausendfeld für ein großes Zirkuszelt mit einer Bühne und vielleicht für einige Trödelstände nutzen. Aber dann bräuchten wir mehr Personal, die dann speziell diesen Platz, vorbereiten, organisieren, beaufsichtigen und am Abend vom Müll befreien. Eine Menge Arbeit, mal sehen, wir arbeiten daran. Sehr glücklich sind wir in der freundschaftlichen Zusammenarbeit mit Eucaris Guillen, die dieses Jahr für die Akteure aus anderen Kulturen und Ländern verantwortlich ist. Das ist übrigens unser zweites, inhaltliches Standbein: Weltwärts - Unterschiede die verbinden! Das Straßenfest soll dieses Mal besonders interkulturell sein. Ohne Eucaris undenkbar.

Arbeitet ihr alle ehrenamtlich?
Ja alle.

Und wie erwirtschaftet ihr das Geld für Versicherung, Büro, Werbematerial, Gebühren?
Insbesondere durch Spenden und durch die Standgebühren der Trödler. Die Bands bekommen ebenfalls ein Honorar. Auch wenn das meistens nur ein Anerkennungshonorar ist. Die GEMA möchte nach der Gesetzesänderung den Löwenanteil. Die wollten natürlich gleich für die ganze Straße Geld und da wären mehrere tausend Euro zusammengekommen. Die GEMA ist da sehr fantasievoll. Wir konnten uns dann auf einen bestimmte Bereiche und eine für uns akzeptable Gebühr für die Aufführungen einigen.

Müsste nicht jeder, der Musik an seinem Stand spielt Gebühren an die GEMA zahlen?
Ja, das ist so eine Rechtsunsicherheit. Die GEMA argumentiert, dass wir als Veranstalter die Gebühren eintreiben und weiterleiten müssten. Zum Glück haben sich die Kulturämter für diese Veranstaltung stark gemacht, so dass sich die GEMA etwas zurückhält. Das Kulturamt hat auch dafür gesorgt, dass die Gebühren von Fördergeldern absetzbar sind. Da stehen wir zum Glück nicht alleine da. Aber die ganze Arbeit wird grundsätzlich ehrenamtlich gemacht.

Konzertpublikum in der Nähe der Bühne vor dem »Underground«.
Zuhörer vor der Bühne des »Underground«.
Steffen Balmer auf dem Fahrrad während des Westbesuchs in Leipzig.
Steffen Balmer ist während des Westbesuchs praktisch immer unterwegs.

Hat euch die Stadt über die Jahre hinweg unterstützt und geholfen? In finanzieller oder beratender Weise?
Die Stadt selbst würde ich da jetzt nicht unbedingt nennen. Eher Frau Werner vom Kulturamt und die Mitarbeiter des Stadtteiladen. Und da möchte ich Peggy Diebler hervorheben, die den Westbesuch seit Jahren sehr intensiv unterstützt und bis vor einem Jahr auch im Stadtteilladen tätig war. Wir konnten dessen Infrastruktur, Räume und Technik nutzen, durften kopieren und drucken, ohne dass es dem Westbesuch in Rechnung gestellt wurde. Peggy hat uns auch strategisch beraten. Manchmal sitzen wir ja auch zwischen zwei Stühlen. Zum einen gab es das Interesse der Stadt, die dieses Viertel natürlich auch voran bringen wollte. Zum anderen gab es Stimmen aus der Gießerstraße und insbesondere aus den alternativen Projektgruppen, die sagten, der Westbesuch sei eine von der Stadt organisierte Veranstaltung, was ja natürlich nicht stimmt und nie so war. Wir saßen eine Zeitlang zwischen den Stühlen, weil der Westbesuch sich nie richtig von anderen Projekten und Organisatoren abgegrenzt habt. Jetzt haben wir uns wieder inhaltlich kritisch positioniert, selbst die Gießerstraße ist wieder mit dabei und auch andere Mitgründer, die zwischenzeitlich Westbesuchskritiker waren.

Was hat die Gießerstraße damit zu tun?
Das sind alternative Projekte und Anwohner, die auch in der Gießerstraße ein eigenes Straßenfest organisierten. Sie waren der Meinung, dass der Westbesuch dem Viertel nicht gut täte und dass wir sofort damit aufhören müssten. Weil sie Angst hatten, dass wir damit den Prozess der Verdrängung beschleunigen.

Wir hatten dann gute Gespräche und waren uns schnell einig, dass es nicht sinnvoll sei den Westbesuch aufzugeben und sich damit eines Podiums sowie einer Öffentlichkeit zu berauben. Im Gegenteil müsse man den Westbesuch als Plattform nutzen, um die vielfältigen Gegenpositionen optimal zu positionieren. Einer kritischen Stimme eine Öffentlichkeit zu geben ist jetzt sehr wichtig. Wie zum Beispiel letzten Sommer, als wir gemeinsam mit der Schaubühne die Demo und spätere Diskussion in den Räumen des Felsenkellers organisierten. Inzwischen hat sich der ursprüngliche Interessent zurückgezogen und in diesem Jahr planen wir im Felsenkeller eine Ausstellung zur Alltagsgeschichte von Plagwitz – Lindenau.

Wer ist Stadt für alle?
Das Leipziger Bündnis Stadt für alle besteht aus verschieden Leute. Dazu gehören unter anderem Ariane Jedlitschka und Antje Arnold. Beide waren ebenfalls als Gründungsmitglieder am Anfang des Westbesuchs dabei. Sie haben Immobilienwirtschaft (Ariane) und Geografie (Antje) studiert, sind also Fachfrauen auf ihrem Gebiet. Stefan Wein ist ebenfalls sehr engagiert. Es ist eine sehr demokratische Plattform, bei der niemand die Zügel in den Händen hat und bei der sich Akteure zusammentun, um sich bei den Konzepten zu beraten. Ich glaube, Westbesuch und Stadt für alle können sich gegenseitig stärken und in ihrer speziellen inhaltlichen Ausrichtung ergänzen.

Ihr zieht ja auch an einem Strang. Wir sind gespannt was dabei herauskommt.
Stadt für alle ist auch nicht nur im Westen verankert, sondern arbeitet in ganz Leipzig. Der Westbesuch ist natürlich schon Stadtteilorientiert. Aber wir haben uns schon lange geöffnet und bieten Raum für alle Ideen und Konzepte.

Es wäre wichtig, dass die Stadt Freiräume erhält, dass nicht alles aufgegeben wird. Wir müssen nicht alle Freiflächen mit Stadtvillen vollbauen und alle Fabriken in Lofts umbauen.
Blick in die große Halle des Westwerks in Lindenau.
Trödelstände in der großen Halle des Leipziger Westwerks.

Wir haben uns ja entschlossen, diesen Wandel zu dokumentieren. Das ist ein schwieriges Thema. Die Entwicklung war so nicht abzusehen. Plötzlich nimmt das Fahrt auf und man weiß wieder nicht, wie es sich weiter entwickeln wird.
Ich hoffe, wir halten auch in einer solchen Phase zusammen. Wir müssen sehen, was es an Konzepten und Protestformen gibt, was davon tragbar ist. Natürlich hat das Privateigentum oberste Priorität. Wenn etwas einmal Privat ist, dann ist es schwer damit zu arbeiten. Es gibt Ausnahmen, wie das Wächterhauskonzept, die mit den Hausbesitzern zusammenarbeiten. Aber wenn diese keine Zusammenarbeit möchten, dann wird es schwierig. Es wäre wichtig, dass die Stadt Freiräume erhält oder besser noch, welchen schafft, dass nicht alles aufgegeben wird. Man muss natürlich definieren, was genau mit dem Begriff Freiraum gemeint ist. Wir müssen nicht alle Freiflächen mit Stadtvillen vollbauen und alle Fabriken in Lofts umbauen. Es regt mich furchtbar auf, dass Immobilienfirmen und Investoren mit dem kreativen Charakter des Leipziger Westens und den Künstlern werben. Mit den Künstlern und Initiatoren, denen sie hinten rum ihre Wohnungen und Ateliers kündigen, die Mieten unbezahlbar machen und damit verdrängen.

Wann wurde denn das Haus in der Hohlbeinstraße verkauft, in welchem du zur Zeit lebst?
Die Fabrik wurde zuerst an eine Berliner Zwischenfirma verkauft und dann 2013 an die Leipziger KSW. Die uns dann ab den Herbst 2013 kündigte, weil sie eine komplette Kernsanierung durchführen möchte. Alles und alle Bewohner sollen raus, natürlich möglichst ohne sich zu regen, das erwartet man von denjenigen LeipzigerInnen, die sich die kommende Miete nicht mehr zahlen können oder wollen, aber dafür gibt es dann ein komplett neues Innendesign. Klasse!

Das sind dann später sicherlich keine Räume mehr, die ihr euch leisten könnt?
Nein. Das sind dann Flächen von mindestens 100 m2mit einem Mietpreis von 13 bis 14 Euro pro Quadratmeter, inklusive Nebenkosten. Aber vorzugsweise sollen die Wohnungen später verkauft werden. Mieter sind keine geplant, die sollen gefälligst räumen, gefällig natürlich!

Und was zahlst du im Moment?
Ich lebe auf 88 m2, für die ich 410 Euro inklusive Nebenkosten zahle.

Hattet ihr überlegt, das Gebäude selbst zu erwerben? Hätte es die Möglichkeit gegeben?
Damals wollte der Besitzer es nicht verkaufen. Das Gebäude war früher eine KFZ-Lehrwerkstatt. Ich vermute, kurz nach der Wende wurde es von den ehemaligen Chefs der Lehr-Werkstätten gekauft, die damals sicherlich noch sehr günstig gewesen sind. Allein der Hof ist letztlich für eine höhere sechsstellige Summe weggegangen. Das ist ja ein riesiges Gelände, das bis direkt an die Elster geht. Ich weiß nicht, wie viel die Fabrik im Moment kosten würde, aber das können sich nur Spekulanten leisten, Künstler ganz sicher nicht.

Seit wann sitzt das Büro des Westbesuchs denn in der grünen Villa des Westwerks?
Seit Mai 2012. Und davor haben wir uns zumeist im Stadtteilladen oder einem anderen Ort auf der Karl-Heine-Straße getroffen. Aber als Teil der institutionellen Abgrenzung von städtischen Stellen, hatten wir entschieden, dass wir jetzt ein eigenes Büro brauchen.

Glaubst du, der Westbesuch wäre in anderen Straßen auch so erfolgreich gewesen? Empfindet ihr den Westbesuch denn überhaupt als erfolgreich?
Ja, ich glaube dessen soziale und räumliche Funktion ist sehr wichtig. Der Westbesuch achtet sehr darauf, dass eine hohe Prozentzahl von Anwohnern und Händlern der Stadtteile Plagwitz – Lindenau dabei sind, dass die privaten Trödler sozial gut durchmischt sind. Ich glaube, für die privaten Händler, Anwohner ist es oft sehr wichtig, neben der Rente oder der Sozialhilfe einen kleinen Zuverdienst zu haben. Wir bekommen das durch Anrufe oder E-Mails mit: »Macht das doch wieder, dann kann ich meinem Enkel auch ein Weihnachtsgeschenk kaufen.«, »Wann ist der nächste Trödelmarkt?« und so weiter. Dann müssen wir immer wieder erklären, dass wir kein Trödelmarkt sind oder organisieren. Man merkt, dass das Straßenfest für viele etwas Existentielles ist.

Ich könnte mir ein solches Konzept auch für den Osten vorstellen. Aber ich würde es langsamer machen und stärker die Menschen vor Ort einbinden.
Besucher des Leipziger Westbesuchs in der Karl-Heine-Strasse in Lindenau.
Besucher des Leipziger Westbesuchs in der Karl-Heine-Strasse in Lindenau.

Denkst du, dass sich euer Konzept auf andere Stadtteile übertragen lässt?
Ich überlege, ob man das so übernehmen oder ob man es gleich anders machen sollte. Wahrscheinlich nicht, da jeder Stadtteil seine Eigenheiten hat. Aber auf die eigenen Erfahrungen kann man immer zurückgreifen. Auf der Karl-Liebknecht-Straße ist ja gerade eine große Baustelle und die Feinkost überlegt, ob sie ein Südpaket schnürt und den Rest der Straße für das nächste Fest sperrt. Wir hatten auch einen Erfahrungsaustausch, haben überlegt, wie man das realisieren könnte.

Ich könnte mir ein ähnliches Konzept auch für den Leipziger Osten vorstellen. Aber ich würde es langsamer angehen und stärker die Menschen vor Ort einbinden. In diesem Stadtteil gibt es noch reichlich Leerstand. Gemeinsam könnten Genossenschaften gebildet werden und man kann kooperativ etwas auf die Beine stellen. Ich würde auf jeden Fall ein Haus pachten, damit man auf zwanzig dreißig Jahre eine Sicherheit hat. Wäre mir das vor 10 Jahren bewusst gewesen, dann hätte ich mich bestimmt auch darum bemüht, ein Haus mit Kollegen, Künstlern und Freuden zu pachten. Dann hätten wir gemeinschaftlich ein Atelier- und Wohnhaus gehabt, das wir bis 2040 hätten bewirtschaften können. Die Eigentümer hätten damals sicherlich zugestimmt, so ruinös wie der Leipziger Westen war – unvorstellbar. So haben wir das ganze Konfetti rausgeschossen und jetzt steht man da und das Konfetti ist auch weg. Und man muss sich wahrscheinlich die Frage gefallen lassen, nach der Art: »Was kuckst du so?«.

Wo wirst du hinziehen?
Das kann ich jetzt noch nicht genau sagen. In erster Linie möchte ich in der Fabrik wohnen bleiben, ich fühle mich im Leipziger Westen verortet. Aber das ist gar nicht so einfach - Schleußig und Plagwitz sind ganz schwierige Territorien. In Lindenau hat ja die Stadtbau AG schon zugeschlagen und in dem sogenannten Brunnenviertel schon ganze Carrés gekauft. Die hatten sich auch schon bemüht, Künstler zu einer Aufwertung zu drängen, damit diese das Ganze in Schwung bringen. Das Café Schwarz hat nach jahrelangem mühevollen Umbau und Investition eine neue Mieterin. Und damit ziehen die Mieten schon an, Raymond, der das Café damals gegründet hat, gibt auf. Die erste Endrunde im Anfang!

Würdest Du die Entwicklung als Gentrifizierung bezeichnen?
Ich glaube, das ist ein eher theoretischer, abstrakter Begriff ist. Er beschreibt im Prinzip einen Vorgang, der für jedweden städtischen Wandlungsprozesse zutrifft, aber nicht auf konkrete Umstände eingeht. Mittlerweile ist dieser der kritischen Stadtsoziologie entnommene Begriff kaum mehr als ein Schlagwort, mit dem in seiner allgemeinsten Definition beklagt wird, dass vorgeblich alteingesessene, ursprüngliche Bewohner durch steigende Mieten von beruflich und finanziell gut situierten Reichen verdrängt werden. Ich möchte diesen Begriff ungern nutzen, stattdessen lieber die konkreten Entwicklungen und Ereignisse beschreiben, die passieren.

Du meinst, dass du lieber die Beispiele der Verdrängung beschreibst?
Mit Beispielen kann man das sehr viel konkreter fassen und begreifbar machen. Zum Beispiel, was aktuell seit Anfang 2013 in der Hohlbeinstraße passiert. Ich hatte 2012 ein Gespräch mit dem Bürgermeister Jung, und er fragte, was wir denn anders machen würden, wie könnte mehr Transparenz in die Immobilienwirtschaft gebracht werden, damit Kreative sich in diese einbringen können. Damals konnte ich keine Beispiele aufzeigen, noch nicht konkret aufzählen, denn da war es natürlich auch noch nicht so schlimm.

Schriftzug 'Glück' an einer Hausfassade in Leipzig Lindenau.
Die »Hohen Worte« wurden im Rahmen eines Kunstprojekts als illuminierte Neonschrift an Hausfassaden im Leipziger Stadtteil Plagwitz angebracht.
Schriftzug 'Liebe' der Hohen Worte an einer Hausfassade in Leipzig Lindenau.
Insgesamt wurden sieben Worte installiert, »GLÜCK, LIEBE, LUST, SORGE, MÜHE, ANGST« und »TROST«, das letzte davon im Jahr 2012.
Schriftzug 'Liebe' der Hohen Worte an einer Hausfassade in Leipzig Lindenau.
Die »Liebe« während der Nacht. Installiert an einer Hausfassade in der Nähe des Westwerks.
Schriftzug 'Lust' an einer Fassade der Schaubühne Lindenfels in Leipzig Lindenau.
Inzwischen stehen auch erste Reparaturen an. Wie hier bei der »Lust« an der Schaubühne Lindenfels.

Ein anderes Projekt des Westbesuchs sind die Hohen Worte? Woher kam denn die Idee dazu?
Das Projekt entstand bereits vor der Gründung des Westbesuchs. Die Worte Glück und Lust, die jetzt am Delikatessenhaus und an der Schaubühne installiert sind, waren zuvor in der Innenstadt an der Pinguinbar angebracht. Später kam das Projekt nicht so richtig voran und Jan Apitz, Roswitha Reimann und das Delikatessenhaus haben die Hohen Worte als Konzept für den Westbesuch eingebracht. Der Westbesuch hat anschließend jedes Folgejahr ein Hohes Wort installiert, bis abschließend der Trost am 6. Juli 2012 an der Pfarrei Liebfrauen-Kirche in der Karl-Heine-Straße installiert wurde.

Was kostet die Installation von einem Wort?
Insgesamt zwischen 1.000 bis 1.300 Euro, wofür wir für jedes einzelne Wort Spendengelder von Händlern, Anwohnern und kulturellen Institutionen gesammelt haben.

Wie ist denn die Resonanz auf die Worte?
Es gibt immer wieder positive Reaktionen und Nachfragen auf die Hohen Worte. Oft wird nach dem Sinn gefragt und bis jetzt haben wir uns immer viel Zeit für ein Gespräch genommen. Aktuell geht das Projekt in die zweite Phase. Es müssen langsam die ersten Reparaturen durchgeführt werden. Die Liebe ist nur noch zu erahnen und braucht dringend eine Überarbeitung. Auch die Lust ist nicht mehr das, was man vom Sinn dieses Wortes erwarten würde. Und die Angst müssen wir vom ursprünglichen Installationsort abbauen, da das Haus in nächster Zukunft saniert werden soll. Wir sind mit den verschieden Häusern im Gespräch und hoffen auf ein Entgegenkommen der Pächter oder Institutionen, damit diese sich an der Reparatur beteiligen.

Solange es Menschen gibt, die das handfest unterstützen, machen wir auf jeden Fall weiter.
Schriftzug 'Mühe' an einer Hausfassade in Leipzig Lindenau.
Der Schriftzug »Mühe«, an einer Hausfassade in der Karl-Heine-Straße.
Schriftzug 'Liebe' der Hohen Worte an einer Hausfassade in Leipzig Lindenau.
Der Schriftzug »Angst« befindet sich am Nachbarhaus des veganen Imbiss »Vleischerei«.
Schriftzug 'Sorge' der Hohen Worte an einer Hausfassade in Leipzig Lindenau.
>Die »Sorge« wurde an der Hausfassade des »Noch besser leben« installiert.
Schriftzug 'Angst' an einer Hausfassade in Leipzig Lindenau.

Gab es in den vielen Jahren des Westbesuchs ein besonderes Erlebnis?
Es gibt sehr viele wunderbare Erlebnisse. Allein am Tag eines Straßenfestes ist dies für die Organisatoren und Helfer immer sehr anstrengend. Ich renne die Straße hoch und runter, und wieder zurück. Daher bekomme ich von den Ereignissen des Tages selbst nicht mehr allzu viel mit. Wenn am Abend etwas Ruhe eingetreten ist, bekomme ich mehr die Schwingungen danach mit. Am Tag selbst bin ich nur im Organisationsmodus und kann diesen nur sehr vereinzelt genießen. Wenn ich mal eine Viertelstunde sitzen kann, ist das schon viel. Oder wenn ich dann mal bei Radio Blau oder vor dem Underground ein Konzert für zehn Minuten mitbekomme. Man sieht das auch an den Fotos, in der Anfangszeit habe ich sehr viele Aufnahmen gemacht, und jetzt komme ich kaum noch mehr zum Fotografieren. Der Westbesuch benötigt für diese Aufgabe unbedingt helfende Hände, eventuell Praktikanten oder ansässige Fotografen, die für ein Honorar den jeweiligen Tag dokumentiert. Deshalb fällt mir das schwer, jetzt ein einziges Erlebnis zu beschreiben, leider. Ich hoffe das ändert sich in der Zukunft auch noch mal, sonst kann ich meinen Enkeln gar nicht beschreiben wie es damals war. Am Schluss glaubt das keiner mehr.

Es sind sicherlich auch viele schlichtende Gespräche nötig. Ist die Energie trotzdem so positiv, dass klar ist, dass du weitermachst?
Ja, auf jeden Fall. 2011 kam mal die Frage auf, ob wir weitermachen sollen oder nicht. Ich wusste, dass ich solange weiter mache, wie ich die Energie dazu habe. Und solange es Menschen gibt, die den Westbesuch handfest unterstützen, eigene Ideen einbringen und bei der Umsetzung Aufgaben übernehmen, machen wir auch auf jeden Fall weiter.

Was liegt vor uns?
Der Westbesuch im Sommer. Zwischen Felsenkeller und König-Albert-Brücke soll kein Auto, kein Bus, kein Motorrad fahren. Der Hintergrund: wir wollen gemeinsam mit den Besuchern und Akteuren die Straße besetzen. Für einen Tag wollen wir in diesem neuen Besetztraum für alle die sich einbringen wollen, Freiräume schaffen. Platz für Vereine, Gespräche, Institutionen, Flohmärkte und Konzerte. Seit ein paar Wochen sammeln wir deswegen bei Vision-Bakery über eine Crowdfunding-Aktion Geld. Und die zahlreichen Unterstützer haben gezeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ein riesiges Dankeschön an alle! Mit eurer Hilfe haben wir es geschafft! Kultur steht im Sommer wieder ganz oben auf der Agenda, diesmal mit dem Schwerpunkt der Anwohner und Freunde aus anderen Kulturkreisen. Auf dem Jahrtausendfeld ist ein Veranstaltungszelt mit einer Bühne geplant. Hier finden kreative Aktionen, wie Konzerte, Zirkus und Theater statt.

Info

Steffen Balmer ist gelernter Industriefotograf und studierte Medienkunst an der Hochschule für Grafik und Buchkunst und anschließend Informatik. Er ist freiberuflich im Leipziger Westen tätig.

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