Beat Toniolo ist ein Neuzeitzer und hat die Zeitzer Michael Mendl Festspiele organisiert.

In Zeitz rief mich der Vibe der Vergangenheit.

Beat Toniolo

Beat Toniolo ist ein Neuzeitzer und hat sich mit ungeheuren Kräften ins Zeitzer Leben gestürzt. Dieses Jahr hat er die ersten Zeitzer Michael Mendl Festspiele organisiert und sich als Erzengel für das Zeitzer Klinikum eingesetzt.

Wir treffen Beat zur Generalprobe im Franziskanerkloster. Die Atmosphäre der Kirche und der Proben haben eine besondere Magie. Es ist ein Moment, in dem man vergißt, dass wir in Zeitz sind und dass um uns herum viel Leerstand und wenig Kultur ist. Wir spielen Mäuschen und halten fotografische Eindrücke fest, während Texte und Musik aufeinander abgestimmt werden.

Rainer Eckel hilft aus und baut derweil die Hollywoodschaukel auf, ein Requisit für die spätere Aufführung.

Beat, wenn dich jemand neu kennenlernt und fragt, was du machst, wie stellst du dich vor?
Als Künstler und Kulturentwickler. Einer hat mal gesagt, ich wäre ein Fusionist. Ein Kultur-Fusionist und Performancekünstler. Ich vermittele schon Kultur. Wichtig sind immer die Orte. Meine Brückenpfeiler sind Geschichte - Ort - Inhalt. Wo mache ich was, wie und warum. Das sind die Fragestellungen.

Wie bist du zur Kunst gekommen?
Ende der 80er Jahre in München, ich war dort während meiner Ausbildung. Ich ging immer in die Alte Pinakothek und meine damalige Freundin schenkte mir eine Staffelei. Die habe ich zwei Jahre immer mitgeschleppt und angefangen zu malen.

Ich wusste, ich muss einen Ausdruck haben. Das war ein Ventil für mich. Ich war von Anfang an ein Abstrakter. Ich habe mein erstes Bild sogar noch irgendwo. Das war eine sehr naive Malerei, erst klein, dann wurde es etwas größer und ich fing an zu experimentieren, mit Farben, mit Materialen. Von der Malerei kam ich zu Installationen und schließlich zur Performance.

Da liegen ja ein paar Jahre dazwischen. Ich weiß, dass du vor Zeitz in Leipzig gelebt hast. Wann bist du nach Leipzig gekommen und wie?
Vor Leipzig habe ich 18 Jahre im Elsass gewohnt und vor meinem fünfzigsten Geburtstag entschied ich, dass ich noch mal woanders leben will. Irgendwo, wo mich keiner kennt und wo ich keinen kenne. Ich hatte im Elsass in einem 100jährigen Bauernhof gewohnt, ich hatte meine Ruhe, eine Scheune als Atelier und im Sommer vermisse ich das auch.

Ich suchte mir damals vier Städte aus, Hamburg, Berlin, Dresden und Leipzig. Von Leipzig hatte mir ein befreundeter Kulturjournalist erzählt, der meinte ich solle mir die Stadt anschauen, da wäre Aufbruch. So bin ich gerade auch in Zeitz gelandet.

Ich machte also meine Stadtrundreise und Hamburg war zu weit weg von der Schweiz und zu teuer, Dresden war mir zu behäbig und touristisch, Berlin war schon zu hip und zu groß. Alle Schweizer Künstler sind nach Berlin und ich brauche immer einen Gegenstrom. Und im Oktober 2010 habe ich mich in Leipzig angemeldet.

Beat Toniolo sitzt auf einer Hollywoodschaukel im Franziskanerkloster in Zeitz.
Eine Hollywoodschaukel kombiniert mit einer Schaukel. Beats Einsatz bringt das Gestänge auch fast zum Kippen
Beat Toniolo mit den Regieblättern im August 2019 im Franziskanerkloster in Zeitz.
Beat Toniolo mit den Regieblättern im August 2019. Eine Zeit(z)Reise als Gesprächs-Collage.

Und hast du die Aufbruchsstimmung gefunden?
Mich faszinierte die Architektur, die mich vielfach an Paris erinnerte und dann auch die Geschichte. Bis zu diesem Zeitpunkt wusste ich von der DDR Geschichte noch nicht so viel. Es war nicht die Sprache, das Sächsische ist eine der unerotischsten Sprachen, die ich kenne. Das ist eine Parallele zum Elsass, über die Elsässer gibt es auch viele Witze. Allerdings mag ich auch meinen Schweizer Dialekt nicht.

Wie lange bist Du in Leipzig geblieben?
Bis zum Februar 2019. Ich habe mich dieses Jahr in Zeitz angemeldet.

Es ist wie in der Wüste. Man spendet ein kleines Sämchen, gibt Wasser drauf und merkt, dass da etwas passieren kann.

Du sagst, nach Zeitz bist du aus ähnlichen Gründen gekommen wie nach Leipzig. Hat dir von Zeitz auch jemand erzählt?
Ja, das war einer, der mich nicht so gut kannte. Er sah einen Tagesthemenbeitrag über Zeitz, in dem auch Philipp Baumgarten dabei war. Und er sagte zu mir, dass die dort Leute wie mich suchen würden. Ich musste erst einmal schauen, wo Zeitz ist und sah, ach, gar nicht weit weg von Leipzig. Da bin ich mal hin, habe mich mit dem Oberbürgermeister getroffen und natürlich auch recherchiert.

Meine ersten Gedanken waren: Wow, da geht ja nicht der Bär ab. In der Presse war immer von „der Geisterstadt” zu lesen. Viele Problemstrukturen, viel Vergangenheit, jetzt kommt der Strukturwandel und das hat mich interessiert. In eine Region zu gehen, die nicht vom Boom regiert wird. Das genaue Gegenteil von Leipzig. Und dann hörte ich Franziskanerkloster, Luther, Moritzburg und Kloster Posa. Das rief mich alles. Da fühle ich diesen Vibe der Vergangenheit.

Und dann der Leerstand, jedes vierte Haus ist unbewohnt. Ich verstehe, dass das für die Leute vor Ort auch depressiv wirkt. Primär hat mich gereizt, dass man hier noch experimentieren kann, dass man etwas Neuartiges schaffen kann.

Als ich nach Leipzig ging, da wusste ich, das boomt, da geht was. Aber dann wurde das so ein Hype, der mich an München erinnerte. Diese Schickiszene, diese Immoblilienhaie, diese Oberflächlichkeiten, dieser Prunk und Protz. Das hat mich abgestossen.

Privat vermisse ich natürlich mehr kulturelles Programm in Zeitz. Als Kulturschaffender war ich in Leipzig einer von vielen und das ist hier in Zeitz anders. Ich bin bislang nur bei den Mendl Festspielen und bei der Kundgebung zum Krankenhauserhalt als Erzengel Gabriel aufgetreten. Und was das schon ausgelöst hat, was man den Leuten mit Worten, mit einer Aktion für die Sache gibt. Was man da auslöst, das hat mich sehr nachdenklich gemacht und freudig gestimmt.

Es ist wie in der Wüste. Man spendet ein kleines Sämchen, gibt Wasser drauf und merkt, dass da etwas passieren kann.

Der Altar der Kirche im ehemaligen Franziskanerkloster Zeitz.
Seit 2011 ist das ehemalige Franziskanerkloster als Kulturkirche im Einsatz
Eine Tafel die darüber informiert, dass Martin Liuther in dieser Kirche predigte.
Luther hat große Symbolkraft für die Entstehung der Mendl Festspiele. Einer der Abende musste an diesem Ort sein, an dem der Reformator vor fast 500 Jahren predigte.

Das ist vermutlich anders als deine zurückgezogenen Jahre im Elsass?
Im Elsass hatte ich nicht so viel Kontakt mit den Nachbarn. Für mich war das ein Rückzugsort. Die anderen Anwohner waren nur froh, dass da ein Schweizer lebt und kein Türke. Dort waren es ein Drittel Lucke-Anhänger, hier sind es ein Drittel AFD-Anhänger. Mich zieht es immer in diese rechte Bracke raus, wo man mit der Kultur einen Gegenwind macht. Das ist schon frappant.

Das ist in Zeitz wieder so. Ich bin hier hier hergekommen wo mich niemand kennt, um etwas zu wagen. Ein Risiko einzugehen, gerade da wo man nicht weiß, was passiert.

Das Risiko, wie zur Kundgebung auf die Bühne zu gehen? Und nicht zu wissen, worauf du dich da einlässt?
Ja, das auch. Aber auch die Mendl Festspiele. Zu schauen, wie das ankommt. Und welche Wellen das im Nachhinein geschlagen hat. So bewegende Rückmeldungen, das konnte ich nicht ahnen. Als es mit dem Klinikum losging, war ich auf der Buchmesse und habe dann abends mit Michael Mendl korrespondiert. Die Festspiele waren zwar vorbei, aber wir wollten Zeitz nicht einfach alleine lassen. Da geht es auch um Nachhaltigkeit. Wir wollen diese kleine Popularität nutzen, um etwas zu bewegen.

Und weil Michael zeitlich nicht vor Ort sein konnte, habe ich ihn gefragt, wie er das fände, wenn ich dann dort aufträte. Und er sagte sofort: Mach das!

Er hat mir einen Text geschickt, den ich dann für die Erzengel Gabriel Rede anpasste. Und als ich zur Kundgebung auf den Platz kam, merkte ich schon, dass ich mich ins rechte Volk begebe. Ich bin Gegenwind gewohnt, bin auch schon auf der Art Basel angefeindet worden. Aber hier war ich Performer für eine Sache. Auf der Montagsdemonstration vor dem Klinikum war schon sehr viel Spannung. Diese Gereiztheit. Es war auch am Dienstag sehr aufgeladen und es gab auch ein paar negative Zwischenrufe. Aber die waren so überrascht, über meinen Auftritt. Was macht der da jetzt? Was passiert hier? Ich habe vor meinem Auftritt drei Minuten von der Moldau gespielt. Smetana, die Musik hat ja so einen Horizont, da kann man sich ausmalen, was passiert, sie ist besänftigend. Und damit habe ich die Menge besänftigt.

Bist du im Kostüm durch die Menge gekommen?
Ich hatte mich im Tourismusbüro umgezogen und geschminkt. Ich war recht nervös und brauche dann vor dem Auftritt ein paar Minuten zum Innehalten. Ich hatte zwar stundenlang an meinem Auftritt gearbeitet, aber das war für mich dort oben auch sehr bewegend. Nicht wegen mir selbst, mehr aus Angst, dass die rechtsradikalen Deppen die Plattform dann auch nutzen wollen. Ich wusste nicht, ob ich ausgebuht werde.

Zu Beginn habe ich von weitem mal jemanden Rufen hören und ich sagte: „Silence, Silence. Im Himmel ist es ruhig.” Und das hat die so beruhigt, dazu habe ich viel mit der Gestik gearbeitet.

Ich merkte, da gehen jetzt nicht mehr nur Worte, da braucht es Taten.

Und weil du vorher durch die Menge gelaufen bist, wusstest du, dass die Stimmung gereizt ist?
Ja, nicht nur politisch rechts, sondern auch von den Zeitzern und Zeitzerinnen berechtigt, weil sie jetzt schon wieder dabei waren etwas an Naumburg zu verlieren. Ich merkte, da gehen jetzt nicht mehr nur Worte, da braucht es Taten. Und Dienstag auf dem Altmarkt, da gab es Pfiffe und Gejohle. Eine insgesamt sehr aggressive Stimmung. Und ich dachte, dass die AFDler die Plattform möglichweise für sich nutzen, indem sie sich hinstellen und sagen, schaut, wir machen auch etwas Gutes für euch. Das wurde dann zum Glück vom Landrat zunichte gemacht.

Deinen Auftritt als Erzengel hattest Du aber nur am Dienstag, oder?
Ich kam Sonntag von der Buchmesse fix und fertig zurück und hätte das bis zum morgen um 9 Uhr für die Demo vor dem Klinikum nicht geschafft. Ich brauchte den ganzen Montag zur Vorbereitung und Abstimmung mit Michael. Der fand die Aktion toll. Das hat ja auch schon viel Symbolkraft, der Erzengel Michael, Michael Mendl, Michael im Wappen von Zeitz, die Michaeliskirche. Ich wurde auch als Erzengel Michael angekündigt.

Aber es war der Erzengel Gabriel, der Maria Jesus Geburt verkündet? Ich bin nicht Bibelfest…?
Ja, als Erzengel Gabriel. Es gäbe natürlich auch den heiligen Beatus…

Der deutsche Schauspieler Michael Mendl bei der Generalprobe zu: Luther, Brecht & Frisch und Mendl hat das letzte Wort. Es ist die erstmalige Begegnung dreier Charakterköpfe, die Mendl speziell zu interpretieren weiß.
Der deutsche Schauspieler Michael Mendl bei der Generalprobe zu: Luther, Brecht & Frisch und Mendl hat das letzte Wort. Es ist die erstmalige Begegnung dreier Charakterköpfe, die Mendl speziell zu interpretieren weiß.

Wie kam denn dein Kontakt zu Michael Mendl und die Idee zu den Festspielen zustande?
Das tönt ein bisschen pathetisch, aber ich glaube an den Ursprung von Begegnungen, die über Jahre hinweg gehen. An den Ursprung einer Überzeugung, einer Gerechtigkeit oder einer Form des Ausdrucks, der über Jahre reift.

Man hält mich für einen altmodischen Künstler, weil ich altmodische Materialien verwende. Damit meine ich auch das Textmaterial. Robert Walser ist tot, Max Frisch ist tot und Luther glaube ich auch. Mich reizen diese Worte. Was Brecht vor 60 bis 70 Jahren an Inhalt zu sagen hatte, das hätte heute oder morgen stattfinden können. Und ich vermisse diese streithaften Persönlichkeiten. Heutzutage geht es ja nur noch um Vermarktung, alle passen auf, was sie sagen und nicht sagen. Sagst du das Falsche, dann bist du out. Die Szenerie der Influencer oder Deutschland sucht den Superstar, die wollen alle Sternchen werden, aber die haben keine Grundlage mehr.

Michael Mendl und mich hat Luther zusammengebracht. Ich war 2010 auf der Wartburg, eingeladen von Otto Sauter, der Trompeter, der auch bei den diesjährigen Festspielen dabei war. Mendl sah damals meine Tasche (eine Art Ofenrohr trifft Steampunk, Design von Andrea Rist. Anmerkung Wunderwesten) und dachte, dass ich ein skurriler Typ bin. So sind wir ins Gespräch gekommen. Ich lud ihn dann 2011 zum Literarischen Herbst in Leipzig ein und er las Texte von Robert Walser und unveröffentlichte Texte von Max Frisch und Ingeborg Bachmann.

2018 habe ich ihn ins Kunstkraftwerk in Leipzig eingeladen, wo wir die immersive Kunstart entdeckt haben. Tanz mit Livemusik, Videokunst und Michael, der Texte liest. Zu seinem 75-jährigen Geburtstag wollte ich eigentlich eine Lesung mit ihm machen und das wurde dann ein Hörspiel.

Du sprachst zuvor von der Zeitzer Geschichte, die dich rief. Kannst du das noch ein wenig konkretisieren?
Ja, ich sprach ja von den Gebäuden, von der Geschichte. Als altmodischer Künstler bin ich mehr in der Vergangenheit, ich will mich eher dorthin zurückziehen als in die Zukunft.

Würdst du gern in die Vergangenheit zurückgehen?
Ja, würde ich sofort. Ich weiß Frauen würden sagen, dass ich spinne, dass ich ignoriere, was da früher war. Aber da bist du geritten, um einen Brief zu transportieren. Diese ganze Entschleunigung, die würde mir wirklich gut tun. Die ganze Schnelligkeit, damit habe ich total Mühe.

Ich erinnere mich noch, wie ich als Kleinkind vor einem VW Käfer stand. Ich habe noch den Sound vom Motor im Ohr. Oder als ich zum ersten Mal mit einem Mofa gefahren bin, mit meinem Vater in den Wald. Es hat geregnet, ich erinnere mich genau, das war unglaublich. Heutzutage, da ist einfach alles da. Diese Einfachheit, diese kleine Welt, die mit Feinheiten bestückt ist. Und heute ist alles schnell, alles „easy” und sehr oberflächlich.

Meine Zeit, das waren die Pariser Künstler der 1920 Jahre.

Wie weit zurück würdest du denn gerne gehen können? 50 Jahre oder noch weiter?
Meine Zeit, das waren die Pariser Künstler der 1920 Jahre. Alberto Giacometti, Picasso, da waren diese Künstlerkolonien in den Bars, die auch experimentiert haben. Oder auch die 1950er, 1960er Jahre, der damalige Umbruch und Aufbruch. Oder dann 200 oder 300 Jahre zurück.

Von den Regierungsformen reden wir aber nicht, oder? Das was wir heute an Demokratie haben, das bedauerst du nicht?
Nein, wie gesagt, wenn ich das Frauen erzähle, dann sagen die mir, ich soll mir vor Augen führen, was die Frauen früher alles erdulden mussten. Da waren die Hexenverbrennungen. Jede Frau, die speziell aussah oder etwas spezielles sagte, die wurde verbrannt.

Klar ist das nicht mein Impetus zu sagen, das fand ich toll. Es geht nicht darum mal wieder die Männer an die Macht zu bringen.

Ich habe gerade einen Bericht zur Meinungsfreiheit in der Demokratie gelesen. Die DDR hat natürlich darunter gelitten. Aber ich sehe nicht, was Fremdenfeindlichkeit und Hasstiraden der Rechtsradikalen mit Meinungsfreiheit in der Öffentlichkeit zu tun haben.

Als Künstler war ich mal eingeladen, mich mit dem Dreißigjährigen Krieg zu beschäftigen. Und gleichzeitig hatten wir Krieg in Iran, im Irak und später den Jugoslawienkrieg. Ein amerikanischer Kriegsforscher hat gesagt, dass unsere heutigen Methoden nicht anders sind als dazumal. Du schießt auf Kinder, vergewaltigst Frauen und dann frage ich mich, war das vor 300 Jahren so viel schlimmer? Ich meine, im Verhältnis zu unserem Entwicklungsstand, frage ich mich, was war denn schlimmer?

Was der Mensch dem Menschen antun kann.

Welche Texte, welche Autoren habt ihr für die Aufführung im Franziskanerkloster aufeinander treffen lassen?
Der Ursprung war Luther, weil der in der Kirche gepredigt hat. Und von ihm ausgehend überlegten wir, wen bringen wir da zusammen, wer hat auch mit der heutigen Zeit, 30 Jahre nach dem Mauerfall zu tun? Max Frisch war auch viel im Osten, hatte auch was mit Brecht zu tun. Es war spannend, diese Netzverbindungen gemeinsam mit Michael zu erarbeiten.

Als ich bei ihm war, hat er mir das Gedicht Kinderkreuzzug von Brecht vorgelesen. Das war sehr beeindruckend, da habe ich feuchte Augen bekommen. Und ich habe überlegt, wenn ich jetzt schon so nah an den Tränendrüsen bin, können wir das den Leuten zumuten?

Im Konsens für die anderen Texte fand ich den dann so stark, dass wir ihn genommen haben. Und während der Aufführung saß mir vis-a-vis eine Mutter von zwei Kindern gegenüber, die ich kannte und ihr liefen die Tränen herunter. Hört man den Text und hört Berichte von Syrien, erkennt man, das ist heute nicht anders als damals.

Michael Mendl und Beat Toniolo setzen die letzten Korrekturenvor der Aufführung um.
Michael Mendl steht im Bühnenautfit an einem Pult
Jede Korrektur wird gleich festgehalten, damit am Abend der Aufführung alles sitzt.
Letzte Abstimmungen zwischen Michael Mendl und Lora Kostina, Pianistin und Komponistin.
Letzte Abstimmungen zwischen Michael Mendl und Lora Kostina, Pianistin und Komponistin.

Kommt deine Motivation aus dieser Kritik, dass diese alten Texte heute leider immer noch die Wahrheit sprechen?
Ja. Ein Credo, dass ich seit 25 Jahren verfolge ist: Geschichte ist nicht Vergangenheit, es ist Gegenwart. Wir haben nichts gelernt. Und mir helfen die alten Texte das zu begreifen.

Ich bin ja kein Spezialist. Ich bin keine Leseratte, kenne mich nicht mit klassischer Musik aus. Ich bin ein bersekender Handwerker mit zwei linken Händen, im Kopf habe ich Visionen wie ein Intellektueller. Bei mir ist das wahnsinnig viel Intuition. Ich bin ein intuitver handelnder Künstler, dem die Botschaft, wenn man mit offenen Augen durch die Welt läuft, entgegenspringt.

Du sprachst von den berührenden Rückmeldungen, wie erreichen dich diese?
Viele haben mich nach den Auftritten auf der Straße angesprochen. Ein Nachbar hielt den Daumen hoch und sagte, das das ganz toll war. Seine Lebensgefährtin hat ihm gesagt, dass ich doch der BEAT (englisch gesprochen), der Schweizer Künstler wäre. Den hat mein Erzengelauftritt bewegt, was ich sagte und wie. Diese Vergangenheitsbewältigung, dass die Zeitzer mehr und mehr von Naumburg abgehängt werden. Ausgewischt, so nach dem Motto, die brauchen wir nicht mehr.

Naumburg ist mit seinem Dom Weltkulturerbe. Und die brauchen für die Erneuerung des Doms noch mehr Geld und ich frage mich, als jemand dem der Begriff Strukturwandel etwas sagt, muss das sein. Ich sage nicht, dass es nicht wichtig ist, den Dom zu erneuern. Aber diese Gelder kann man auch woanders herbekommen.

Da sehe ich auch die Politiker in der Bringschuld. Seit Jahren reden die „vom Volk” und „wir müssen”, aber es geht mehr und mehr um Personendebatten und nicht um Inhalte. Klar bekommt da die AFD Zulauf. Die Leute denken, dass die wenigstens etwas sagen. Aber sie denken nicht darüber nach was passieren wird, wenn die an die Macht kommen.

Daniel Werbach am Klassischen Kontrabass.
Daniel Werbach am Klassischen Kontrabass.
Auch der Zuschauerraum wird mit einbezogen und während der Probe vorbereitet.
Auch der Zuschauerraum wird mit einbezogen und während der Probe vorbereitet.
Am Schlagzeug des Lora Kostina Trios sitzt Tom Friedrich.
Am Schlagzeug des Lora Kostina Trios sitzt Tom Friedrich.

Was braucht Zeitz deiner Meinung nach? Du hast viel gemacht dieses Jahr, ist das dein normales Tempo?
Eigentlich hätte ich erst ankommen müssen und die Festspiele wären dann für 2020 angesagt gewesen. Ich hatte auch noch ein Projekt im Rheinfall. Aber ich wußte, wenn ich es erst in einem Jahr mache, dann sind viele Sachen und Entscheidungen schon passiert. Dann wird gar nicht mehr wahrgenommen, dass es Zeitz überhaupt noch gibt. Ich habe gemerkt, wie so ein inneres Fegefeuer: Jetzt ist der Zeitpunkt, jetzt muss ich was machen, jetzt ist es auch für Zeitz wichtig, dass es wahrgenommen wird. Und so war es auch.

Weder Michael Mendl noch ich hätten uns das in diesem Umfang träumen lassen. Wir waren sehr positiv erfreut, was wir dort an persönlichen Kontakten hatten. Ich mache ja nichts für die Masse und die Mengen, wenn mir dann eine Person dankt, die Kassiererin bei Edeka. Die sagte mir: „Wissen Sie, ohne das Theater und die Festspiele, ist es hier auch nicht mehr schön.” Die war auch mehrmals da. Viele kamen öfter und man hat richtig gemerkt, dass man denen was an kultureller Substanz geschenkt hat.

Was planst du für nächstes Jahr?
Ideen sind natürlich da. Es gibt auch Anfragen von woanders, die die Festspiele mitbekommen haben. Vielleicht habe ich den Zeitzern auch zu viele Termine zugemutet. Vielleicht mit einem Hauptort woanders, aber hier findet das als Gast statt. Auch finanziell muss ich schauen, dass es passt. Es gab ein paar Wortbrüche und ich merke das im Portemonnaie. Ich kann nicht drauf legen. Wenn man ein dreiviertel Jahr für nichts arbeitet, dann ist man zu dumm. Die Leute meinen ja, dass ich Schweizer bin und deshalb Geld hätte.

Das ist genauso, wie jeder Sachse rechtsradikal ist. Zeitz lädt zu Wortspielen ein, welches ist dein Favorit?
Der Rainer Eckel sagte: „Der Mendl hat gezeitzt und hat Zeitz auch gemendelt.” Das „Zeitzen” kommt vom Michael. „Jetzt zeitzen wir mal“, das finde ich sehr positiv, dass hat was mit Fortschritt, mit was machen zu tun. Den Leuten fehlt manchmal die Perspektive, nicht unverständlich nach Jahrzehnten des Rückschritts, da kommen die aus diesem Dilemma nicht mehr raus, ich verstehe das.

Beat in einem Leipziger Hinterhof, zwischen Terminen in Zeitz und der Aufführung
Beat in einem Leipziger Hinterhof, zwischen Terminen in Zeitz und der Aufführung

Das klingt doch noch nach vielen Möglichkeiten für die nächsten Jahren?
Ja. Ich habe hier für mich zugesagt. Darum habe ich ja auch bei der Kundgebung meinen Part geleistet. Auch ohne Kinder zu haben, möchte ich mich nicht wegdrehen. Wo wäre ich denn geboren, wenn in Schaffhausen die Geburtenklinik geschlossen worden wäre? Ich kann noch sagen, dass ich in Schaffhausen geboren und aufgewachsen bin. Das hat auch einen tiefenpsychologischen Grund, wenn man den Zeitzern die Geburten- und Kinderklinik wegnehmen würde. Das wäre der Gau.

Wir können etwas schaffen, wenn wir an dem was wir tun Freude haben und den Glauben haben, dass es etwas bringt.

Das wäre das falsche Zeichen für die Zukunft von Zeitz.
Genau. Dazu kommt noch, dass es Manager sind, sogenannte Troubleshooter, Tischsitzer, die groß abkassieren und behaupten eine Analyse zu machen. Die haben keine Visionen, keine Empathie, keine soziale Gedankenweise. Statt zu schauen, wo der Fehler liegt und dann darauf aufzubauen. Das einfachste ist doch immer einfach zu schließen. Und das ist eine Habgier, ein Geiz, diese narzzistische Egomanie der Leute, die dann nur an dem Leid der anderen verdienen wollen. Das spornt mich auch an. Das gibt mir auch Energie. Ich könnte jede Woche als Erzengel auftreten. Oder ins Bundeshaus gehen und mal den Moralapostel zu geben.

Etwas Positives ist, das man Zeitz und die Zeitzer und Zeitzerinnen dazu bewegt, dass sie stolz sein dürfen auf die Vergangenheit und dies mit kleinen oder großen Taten zeigen. Und das Negative hat das Positive, dass es ein Weckruf an die Bevölkerung ist, dieser Zusammenhalt zur Kundgebung. Das war ja wie 1989 „Wir sind das Volk” und jetzt machen wir gemeinsam etwas. Das hat viel an Energie ausgelöst, das man auf diese Weise etwas erreichen kann und nicht immer nur meckern muss, dass etwas Scheiße ist oder nichts bringt. Ich kann immer tausend Ausreden haben, warum ich etwas nicht tue.

Aber im Gegenteil, etwas machen und das auch noch gemeinsam. Und das ist auch der Impetus, mit dem ich reingekommen bin und es wurde bemerkt, dass jetzt nicht nur ein Schweizer kommt und ihnen sagt wie es geht. Nein, ich lerne ja auch dazu. Den eigenen Horizont zu erweitern, zu sagen, WIR können etwas schaffen, wenn wir an dem was wir tun Freude haben und den Glauben haben, dass es etwas bringt.

Info

Beat Toniolo ist ein Neuzeitzer und hat sich mit ungeheuren Kräften ins Zeitzer Leben gestürzt. Dieses Jahr hat er die ersten Zeitzer Michael Mendl Festspiele organisiert und sich als Erzengel für das Zeitzer Klinikum eingesetzt.

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