Detailaufnahme von Herbstlaub von Regentaucher Fotografie

Wir wollen den um uns stattfindenden Wandel mit Bildern festhalten.

Petra Mattheis & Sascha Nau

17. Mai 2016

Auf den Seiten des Wunderwestens portraitieren Petra Mattheis und Sascha Nau seit 2013 die Menschen des Leipziger Westens und dessen wundervolle und wunde Seiten.

Der Leipziger Westen hat sie mit seiner Mischung aus Wohn- und ehemaligen Industriegebäuden, zahlreichen Freiräumen und potentiellen Möglichkeiten schon lange in den Bann gezogen. Es dauerte dann aber doch ein paar Jahre, bis die Idee zu dem Projekt »Wunderwesten« entstand. Petra Mattheis und Sascha Nau dokumentieren die Veränderung der Viertel Lindenau und Plagwitz. Sie portraitieren Menschen, die hier leben und arbeiten oder Dinge ausprobieren, die hierherkamen oder - kommen werden.

Portraitaufnahme von Petra Mattheis.
Petra studierte Kommunikationsdesign mit Schwerpunkt Fotografie und anschließend Freie Bildende Kunst an verschiedenen Akademien. Ihre erste Kamera war eine »AGFA Ritsch-Ratsch-Klick«, mit der sie schönere Bilder machte als Sascha mit seiner Polaroid.
Portraitaufnahme von Sascha Nau.
Sascha studierte ebenfalls Freie Bildende Kunst. Heute arbeiten beide gemeinsam im gestalterischen Bereich in Leipzig.
Ein Blick in das Büro von Petra Mattheis und Sascha Nau im ehemaligen Josephkonsum in der Karl-Heine-Straße in Leipzig Lindenau.
Petra und Sascha haben ihre Zelte im ehemaligen Josephkonsum auf der Karl-Heine-Straße aufgeschlagen, wo sie seit 2010 Projekte im gestalterischen Bereich realisieren. Dies betrifft ebenso die Entwicklung von Corporate Designs, Portrait- und Architekturfotografie, als auch die Konzeption und technische Umsetzung von Internetauftritten. Die dankbarsten Aufträge sind die Projekte, bei denen die verschiedenen Disziplinen zusammengeführt werden und man das Ganze im Blick hat.

Warum habt ihr euch den Wunderwesten ausgedacht? Was habt ihr euch erhofft?
Petra: Wir kamen 2004 in den Leipziger Westen, in einer Zeit, in der die Depression der Nachwendezeit noch deutlich sichtbar war und es einen massiven Leerstand gab. Damals wohnten wir in der Helmholtzstraße und bis auf die Schaubühne und den Gemüseladen auf der Karl-Heine-Straße gab es nicht viel. Man konnte die Ödnis körperlich spüren, wenn man die Rolltreppe zum Supermarkt in der Merseburger Straße runterfuhr. Es war grau und leer auf den Straßen. Es gab diese vielen Möglichkeiten, die Ladenflächen, die alle zugekleistert waren, die unsanierten Häuser und Brachflächen. Es lag alles in einem tiefen Schlaf.

Sascha: nd plötzlich veränderte sich das so vertraute Stadtviertel in einer Geschwindigkeit, die man nicht mehr ignorieren konnte. Seit 2010 wurde deutlich saniert, immer wieder machten neue Projekte auf und zu.

Petra: Beim Westbesuch waren plötzlich tausende Menschen auf der Karl-Heine-Straße. Es gab mit der Kostbar einen Bioladen, das Druckstatt-Café in dem wir oft einen Espresso getrunken haben, Gebäude wurden saniert und Geschäfte eröffnet. Es war so viel möglich während dieser Aufbruchsstimmung. Es war aufregend und noch überschaubar und man kam leicht in Kontakt mit Menschen.

Sascha: Aus diesem Gefühl heraus hat sich dann das Projekt entwickelt - aus dem Wunsch heraus, unsere Umgebung kennenzulernen und zu dokumentieren, was den Leipziger Westen für uns so besonders macht. Konkrete Hoffnungen oder Zielsetzungen gab es nicht.

Es dauerte dann aber noch etwa ein Jahr, bis ihr mit dem Wunderwesten begonnen habt.
Sascha: Die Gedanken dazu mussten sich erst einmal konkretisieren und die Idee eine Form annehmen.

Petra: Wir hatten uns schon gefragt, ob es vielleicht zu spät sei für eine Dokumentation der Veränderungen. Nachdem das x-te Café/Restaurant/Bistro aufmachte, war die Begeisterung darüber auch nicht mehr ganz so groß. Es fühlte sich nicht mehr träumerisch und unreflektiert positiv an. Wir suchten daher nach einem Namen, der sowohl eine positive, wie auch negative Komponente beinhaltet. Offen für Interpretationen und ambivalent lesbar. Im Begriff »Wunderwesten« ist eben auch eine »Wunde« enthalten. In diesem Viertel wurde vieles wachgeküsst, aber die Veränderungen haben auch negative Seiten.

Wir wollen die Leute und deren Ideen zeigen, die hier schon länger arbeiten und mit ihrem Engagement die Viertel belebt und gestaltet haben.
Aufnahme einer Hauswand in Leipzig Lindenau, auf der neben einem zugemauerten Fenster das Wort Hingabe gesprüht ist.
Seit Jahren sammeln Petra und Sascha Kommentare der Anwohner in fotografischer Form.
Aufnahme eines Stofftigers in einem Baum auf der Karl-Heine-Straße in Leipzig Lindenau.
Wie zum Beispiel der Tiger, der sich in den Platanen auf der Karl-Heine-Straße versteckt oder das Graffiti »Hingabe« auf einer jetzt lang sanierten Backsteinfassade.

Wie wurde aus der anfänglichen Idee der spätere Wunderwesten?
Petra: Wir haben anfangs kurze Wege gesucht und Leute angesprochen, die wir schon kannten. Wir haben die Fragen per E-Mail geschickt und anschließend einen Fototermin vereinbart.

Sascha: Der Fokus lag anfangs stärker auf der Fotografie. Da wir professionell in diesem Bereich arbeiten, mussten wir uns nicht erst einarbeiten und eine Form finden.

Petra: Es war zu Beginn vor allem ein Fotoprojekt. Wir wollen den um uns stattfindenden Wandel mit Bildern festhalten. Wir wollen die Leute und deren Ideen zeigen, die hier schon länger arbeiten und mit ihrem Engagement die Viertel belebt und gestaltet haben. Immer wenn etwas verschwand, sei es durch Sanierung oder durch Wegzug, war es schwer sich zu erinnern was vorher da war. Die Form des Gesprächs per E-Mail funktionierte jedoch nicht. Das wurde uns schnell klar. Es war zu steif, nicht lebendig genug. Insofern hat sich die ursprüngliche Herangehensweise auch schnell verändert. Wir wollten tiefer in die einzelnen Projekte und Ideen eindringen.

Sascha: Wir sind als unser eigener Auftraggeber komplett frei in unseren Entscheidungen. Wir erhalten keine Zuschüsse, Förderungen oder Werbeeinnahmen. Daher müssen wir uns inhaltlich und formal nicht beschränken. So sind die Gespräche teilweise recht lang, aber man erhält dadurch einen guten Einblick in das Tun der jeweiligen Person oder Personen.

Wie entsteht ein Beitrag für den Wunderwesten konkret, nachdem ihr eure Gesprächspartner ausgewählt habt?
Petra: Wir verabreden uns zu einem Interviewtermin. Das dabei geführte Gespräch zeichnen wir auf, schreiben es ab, schreiben es um und erarbeiten einen Text, der das Gesagte möglichst stimmig wiedergibt und abwechslungsreich ist.

Sascha: Während eines zweiten Termins erstellen wir Portraitaufnahmen und ergänzendes Bildmaterial. Sowohl Texte wie auch Bilder veröffentlichen wir nur mit Einverständnis aller Beteiligten. Jeder Artikel wird von den Gesprächspartnern freigegeben. Anschließend wird dieser Artikel in eine gestalterische Form gebracht, Texte und Bildern werden verknüpft, Bildunterschriften erstellt und Hintergrundinformationen hinzugefügt. Die Seiten des Wunderwestens wurden von uns selbst konzipiert und technisch umgesetzt, wodurch wir praktisch alle unserer Ideen umsetzen können, ohne über technische oder inhaltliche Limitierungen nachdenken zu müssen.

Petra: Der inhaltliche und organisatorische Aufwand für die Erstellung eines einzelnen Beitrags ist recht hoch. Zwischen 15 und 25 Stunden investieren wir bis zur Veröffentlichung. Aus diesem Grund suchen wir uns natürlich vor allem Personen aus, die uns wirklich interessieren und deren Aktionen und Projekte uns überzeugen. Wir investieren viel Zeit in die Beiträge, die sollen uns und anderen dann auch Spaß machen und bewegen.

Ihr beschränkt euch auf einen kleinen Teil von Leipzig, warum macht ihr das?
Petra: Wir wollten uns bewusst bremsen, um nicht durch die schiere Fülle an Möglichkeiten zu erstarren. Wir haben uns formal auf ein bestimmtes Gebiet konzentriert, sind aber wie gesagt inhaltlich völlig frei in der Auswahl unserer Gesprächspartner. Diese Beschränkung gibt uns einen Rahmen, innerhalb dessen wir uns frei bewegen.

Sascha Selbst mit einer solchen Einschränkung wird unsere Liste mit den Menschen immer länger, die wir noch für den Wunderwesten interviewen möchten.

Besprechungstisch im Büro von SNAU | visuelle kommunikation in Leipzig Lindenau.
An diesem Tisch wurden zahlreiche Gespräche zum Wunderwesten geführt, aufgezeichnet und in Form gebracht. Die Fotos entstehen immer an den Orten, die für die Interviewten bedeutsam sind.

Nach welchen Kriterien sucht ihr Eure Gesprächspartner aus? Was interessiert euch?
Petra: Das Engagement der Leute für das Viertel kann eine Rolle spielen. Ob ihr Tun einen Einfluss auf das Viertel hat. Das kann man vielleicht als ein Kriterium festhalten.

Sascha: Wir entscheiden aber auch aus dem Bauch heraus nach persönlichem Interesse. Auch die Jahreszeiten spielen eine Rolle. Den Imker Christopher Mann haben wir beispielsweise nicht im Winter fotografiert, sondern im Sommer, als er mit seinen Bienen unterwegs war.

Gibt es jemanden, den ihr gerne einmal befragen möchtet? Menschen, die ihr noch nicht kennengelernt habt?
Petra: Ja. Wir würden gerne mal Sprayer oder Tagger befragen. Und auch die andere Seite, die Menschen die unter den Markierungen leiden und sie so schnell wie möglich wieder entfernen wollen. Auch interessieren uns Menschen, die Ungewöhnliches sammeln. Menschen, die hier im Viertel schon lange wohnen und die Veränderungen mitbekommen haben. Oder Anwohner deren Haus jetzt saniert wird oder wurde. Die sich ausbezahlen lassen und nun umziehen.

Sascha: Wir möchten die Menschen kennenlernen und anderen einen Einblick in deren Leben geben. Wir treffen dabei eine rein subjektive Auswahl, die nie vollständig und vielleicht auch nicht ausgewogen sein kann. Die Zeit reicht einfach nicht aus.

Leerstehendes Gebäude in Leipzig Gohlis
Ab dem Sommer 2013 entstanden Aufnahmen von leerstehenden und verfallenden Gebäuden in Leipzig. Weniger um ein Zeitdokument zu erstellen, sondern um die eigentümliche Atmosphäre einzufangen, die von diesen meist verlassenen Gebäuden ausging. Daraus entstand die Serie »Awaiting«, die unter anderem von ZEIT ONLINE im Rahmen einer Fotostrecke veröffentlicht wurde. Es sind Gebäude, die sich in einem Schwebezustand befinden, der sich am Besten mit »Warten« beschreiben lässt. Zwischen Hoffen und Bangen. Manche, die vor einer Sanierung stehen, und andere, deren Abriss wohl unmittelbar bevorsteht. Fotostrecke öffnen
Leerstehendes Gebäude in Leipzig Plagwitz - Swiderski
Leerstehendes Gebäude in Leipzig Plagwitz - Swiderski

Wie seht ihr euren Einfluss auf die Entwicklung in Leipzig, was sagt ihr zur Gentrifizierung? (Abgeleitet von dem englischen Ausdruck für niederer Adel „gentry” beschreibt Gentrifizierung den Wechsel von einer statusniedrigeren zu einer finanzkräftigeren Bewohnerschaft.)
Sascha: Wir haben uns anfangs nicht gefragt, ob wir zur Gentrifizierung beitragen, indem wir über die Menschen des Viertels berichten. Der Spaß an der Sache stand im Vordergrund. Vielleicht tun wir dies jetzt etwas mehr, aber es ist nicht so, dass unsere Gespräche von hunderten Leuten gelesen werden. Wir versuchen ein möglichst differenziertes Bild der beiden Viertel zu zeichnen und nicht nur Vorzeigeprojekte und Erfolgsgeschichten zu zeigen. Veränderungen sind Teil des Lebens und mit jeder Handlung verändern auch wir unsere Umgebung.

Petra: Wir sind überzeugt, dass die Veränderung mit uns oder ohne uns stattfindet. Es hilft nicht, die Augen zu verschließen. Wir freuen uns auf der einen Seite, dass wir nicht alleine in der Stadt leben. Und auf der anderen Seite, wenn wir nachts das Fenster offen lassen können, weil es immer noch ruhig genug ist. Und ich geniesse es auch, wenn es morgens manchmal wie ausgestorben ist und abends die Leute auf der Straße oder den Stromkästen sitzen.

Wer macht bei euch was? Spielt das eine Rolle?
Sascha: Das ändert sich manchmal von Interview zu Interview. Wir haben keine starre Rollenverteilung, in der einer ausschließlich die Interviews führt und der andere die Fotos aufnimmt. Wir besprechen, erarbeiten und veröffentlichen alles gemeinsam.

Petra: Es ist letztlich nicht wichtig, wer auf den Auslöser drückt oder wer die Frage stellt. Entscheidend ist, dass es überhaupt geschieht. Das Projekt ist ein wunderbares Mittel, um sich weiter mit den Vierteln zu verwurzeln.

Foto eines modifizierten Gullideckels in Leipzig Plagwitz.
Ein besprühtes Geländer am Karl-Heine-Kanal in Leipzig Lindenau.
Mit einem Pinguin bemalte Kachel auf den Straßen von Leipzig Plagwitz, der ein Spielzeugschaukelpferd an einer Schnur hinte sich herzieht.
Illustration eines Dialogs zwischen zwei gemalten Pinguinen. Ein Pinguin gesteht seine Liebe, der andere sagt NOPE.
Streetart auf den Straßen von Leipzig Lindenau
Petra Mattheis sammelt auf ihren Streifzügen die zahlreichen Kommentare und Interventionen, die Menschen im öffentlichen Raum hinterlassen.
Eine Figur am Karl-Heine-Kanal in Leipzig Lindenau.
Hier sind ein paar Beispiele aus den letzten Jahren, die mit teils kleinen Eingriffen alltägliche Dinge verändern.

Was fasziniert euch am Leipziger Westen?
Sascha: Es ist schon außergewöhnlich, wie viele überregional relevante Projekte in diesem Teil des Leipziger Westens entstanden. Man denke nur an Haushalten e.V., die Nachbarschaftsgärten, die Buchkinder und viele weitere.

Petra: Wir wollen das festhalten. Eugène Atget dokumentierte Paris Anfang des 20. Jahrhunderts mit einer Großbildkamera über Jahre hinweg. Durch die damals noch langen Verschlusszeiten wirken die Straßen oft wie leergefegt. Wir fertigen mit unseren Mitteln ein zeitgenössisches Portrait eines kleinen Teils von Leipzig an.

Was habt ihr weiterhin vor?
Petra: Jetzt, wo die Läden und Häuser fast alle saniert und voll sind, träumen wir davon, dass es irgendwann mal den Wunderwesten in Buchform geben wird.