Birgit Schulze Wehninck und Sven Riemer, die Geschäftsführer:innen des Buchkinder Leipzig e.V.

Überall gab es dieses Spannungsfeld zwischen dem Vorhandenen und den Möglichkeiten. Es lag eine Vibration in der Luft.

Birgit Schulze Wehninck & Sven Riemer

Bei den Buchkindern entwickeln Kinder und Jugendliche im Alter von 4 bis 18 Jahren seit 2001 ihre Geschichten zu eigenen Büchern.

Erwachsene stehen ihnen dabei als gleichberechtigte Partner unterstützend zur Seite, mit denen sie ihre Ideen besprechen und die ihnen bei deren Realisierung helfen. 2013 sind die Buchkinder in den Leipziger Westen zurückgekehrt. Im selben Jahr wurde auch der erste Buchkindergarten eröffnet. Das Buchkinder-Netzwerk besteht mittlerweile aus 14 Werkstätten, die bundesweit zu finden sind.

Wir haben Birgit Schulze Wehninck und Sven Riemer besucht – die beiden sind Vorstand des Buchkinder Leipzig e.V. – sprachen über die Buchkindermethode und wie wichtig es ist, Kindern auf Augenhöhe zu begegnen.

Der Eingangsbereich der Buchkinderwerkstatt in der ehemligen Post in Lindenau.
Toni begrüsste uns gleich am Eingang der Buchkinderwerkstatt.
Bücher und Kataloge früherer Produktionen der Buchkinder sind in mehreren Regalen zu finden.
In den Regalen findet man unzählige Druckerzeugnisse der Buchkinder, die meist in einer kleinen Auflage veröffentlicht werden.

Wie seid ihr nach Leipzig gekommen?
Birgit: Ganz unterschiedlich. Ich kam 1996 über meine erste Arbeitsstelle nach Leipzig. Die Stadt hatte ich über eine Freundin kennengelernt, die mich auf diese Stelle aufmerksam gemacht hat. Mich hat die Stadt wirklich überwältigt, in deren leerstehende Gründerzeithäuser man damals noch hineingehen und viele Dinge entdecken konnte. Wenn ich hier auch arbeiten kann, dachte ich, dann bleibe ich hier.

Als was hast du gearbeitet?
Als Landschaftsarchitektin. Das tolle an der Stadt war, dass man sich so schnell zuhause fühlt, dass es viele Identifikationspunkte gab, deren Veränderungen man direkt miterlebte. Bereits innerhalb weniger Monate wurden diese Veränderungen sichtbar. Der Gemüseladen um die Ecke war gerade noch da und ein halbes Jahr später gab es eine andere Nutzung. Im Vergleich zu anderen Städten habe ich mich mit Leipzig viel stärker identifizieren können, hatte das Gefühl, an der Entwicklung teilhaben zu können und auch zu wollen. Und das ist das, was ich immer noch so spannend an dieser Stadt finde. Ich kann mitgestalten und eigene Spuren hinterlassen.

Sind diese Spuren auch die Geschichten, die erzählt werden?
Geschichte erlebt man in einer Stadt mittelbar oder unmittelbar. Wenn ich die Veränderung eines Stadtteils miterlebe, kann ich dazu eine eigene Geschichte erzählen. Eine Geschichte, die auch diesen Kommentar braucht, weil sie sich im Außen nicht mehr abbildet. Wenn ich die Stadt einem Freund erklären möchte, braucht es die Erzählung. Diese Stadt ist voll davon. Diese ganze alte Bausubstanz, dieses Unfertige hat einfach dazu eingeladen, es zu vollenden oder weiterzuentwickeln. Diese unfertigen Gebäude und Plätze sind Anfänge von Geschichten, die man sich im Kopf weiterdenken kann. Irgendwann gehen diese Gedanken schließlich in das eigene Handeln über.

Hast du als Landschaftsarchitektin in der Stadt gearbeitet?
Ja, ich war in vielen Stadtteilen unterwegs und habe Plätze gestaltet. Stadtplätze, Spielplätze, was man so schafft in einem Jahr. Dadurch habe ich die Stadt auch sehr gut kennengelernt. Allerdings reibt man sich als Landschaftsarchitekten durch die langen Behördenwege und Entscheidungsstrukturen auch auf, die gedankliche Vorarbeit kommt nicht in die Umsetzung oder nur über lange Umwege. Das war für mich unbefriedigend.

Andererseits war sehr viel Bewegung in der Stadt, die Räume noch unfertig und die Strukturen noch nicht so gefestigt wie in westlichen Städten. Es gab politisch überall Anknüpfungspunkte und Keimzellen und Möglichkeiten sich einzubringen. Pioniergeiststimmung. Unternehmenslust. Direkt nach dem Studium hatte ich die gruselige Vorstellung, Volkshochschulkurse besuchen zu müssen, um Menschen kennenzulernen. Es ist oft schwierig von aussen in Situationen hinein zu kommen, in denen die anderen schon gesettelt sind, sich selbst genügen in ihren Mikrokosmen. Ich musste dann nicht in die VHS, es war hier einfach eine andere Stimmung.

Ich habe in der Wendezeit, wie viele andere, daran geglaubt, hier Gesellschaftsmodelle ausprobieren zu können.
Ein Buchkind bei der Arbeit.
Ein Buchkind bei der Arbeit.
Ein alter Holztisch bildet das Zentrum der Werkstatt.
Das pulsierende Zentrum der Werkstatt ist der Bereich um einen alten Holztisch herum, auf welchem wohl unzählige Geschichten ihren Anfang nahmen.

Und du meinst, dass Leipzig eine Ausnahme ist?
Nein, ich würde das nicht nur auf Leipzig beziehen. Das war einfach die damalige Situation in einer besonderen Zeit. Es gab viele Menschen, die hierher kamen, um zu arbeiten. Entweder, weil sie eine Anstellung fanden oder weil sie neugierig auf diese Stadt waren. Es gab viel geistige, innere Bewegung und entsprechende Gestaltungsmöglichkeiten, Dinge zu unternehmen und sich darüber auch auszutauschen. Und das ist auch heute noch geblieben, aber die Situation ist eine andere als früher. 1996, sieben Jahre nach der Wende, war dieser Geist noch deutlicher spürbar. Es gab Bildungsbewegungen, freie Kindergärten, Schulgründungen, die Umweltbibliothek in der Nachwendezeit, später die Fragen zum Umgang mit der alten Bausubstanz, dem Leerstand und den Brachen in dieser Stadt, es sind Initiativen entstanden wie Haushalten e.V. und die Nachbarschaftsgärten. Mit der Aneignung von Flächen entstand auch der Begriff der „legalen Hausbesetzung“.

Ich habe in der Wendezeit, wie viele andere, daran geglaubt, hier Gesellschaftsmodelle ausprobieren zu können. Obwohl ich im Münsterland an der Holländischen Grenze aufgewachsen bin, habe ich mich mit Beginn meines Studiums 1989 auch sehr schnell mit der Entwicklungsmöglichkeit im Osten identifiziert. Es kam dann anders, als gedacht. Viele waren enttäuscht, dass das westliche Modell übergestülpt wurde. Aber trotzdem gibt es weiterhin viel Spielraum. Das hat die Atmosphäre der Stadt bestimmt und ich denke, das tut sie auch heute noch. Gerade auch hier im Westen von Leipzig.

Sven, wie kamst du nach Leipzig?
Den Blick auf Leipzig hat meine Frau gelenkt. Wir hatten uns in Oxford kennengelernt, wo ich Kunst studierte, und sie hatte einen Studienplatz in Leipzig. Als ich sie in Leipzig besuchte, war ich einfach hin- und weg. Ich bin in Dresden aufgewachsen und 1984 nach Wiesbaden gegangen, wo ich lange gelebt habe. Dort ist jeder Quadratmeter durchgeplant, besetzt und belegt. Während meines Studiums und der Beschäftigung mit Joseph Beuys waren viele Bilder gereift, die warteten umgesetzt zu werden. Und dann kam ich hier nach Leipzig und es erging mir wahrscheinlich ähnlich wie Birgit. Überall gab es dieses Spannungsfeld zwischen dem Vorhandenen und den Möglichkeiten. Es lag eine Vibration in der Luft.

Du lebst seit damals im Leipziger Westen. Birgit, du auch? Oder warst du auch in anderen Vierteln?
Ich habe viele Stadtviertel ausprobiert.

Und wie hast du die Unterschiede erlebt?
Es gibt große Unterschiede. Ich war in Connewitz, in der Südvorstadt, auch in Gohlis habe ich gewohnt. In Gohlis hatte ich eine ganz tolle Wohnung. 240 m2.

Man begegnet vielfältigen Nutzungs- und Lebenskonzepten in diesem auch von Armut geprägten, industriell überformten Stadtteil.

Hatten wir auch, das war vielleicht die Gleiche. (Gelächter)
Birgit :Da gab es einen geräumigen gusseisernen Aufzug. Da fühlte man sich wie in einem Miss Marple Film. Es stand eine Sitzbank darin, die mit Kunstleder bezogen war. Es gab französische Balkone, Flügeltüren, den Charme des Gepflegten aber doch schon Gealterten. Noch gar nicht totsaniert. Das war toll. Aber weil die Wohnungen dort so prächtig sind, mit ihren großen Gärten, sind es oftmals Enklaven. Auf der Straße selbst passiert eigentlich gar nichts. Ein ganz feiner Stadtteil, schöne Bausubstanz, aber sehr hochherrschaftlich, elitär, distanziert. Das ist natürlich in der Südvorstadt anders und in Connewitz ohnehin. Und hier im Westen ist es immer noch sehr durchmischt: man begegnet dem Stadthausbauer ebenso wie den Experimenten und vielfältigen Nutzungs- und Lebenskonzepten in diesem aber auch von Armut geprägten, industriell überformten Stadtteil.

Ein Buchkind betrachtet sein Werk.
Kreativer Enstehungsprozess am zentralen Holztisch.
Detailaufnahme einer Zeichnung eines Buchkindes.
Intensiver Austausch über die Weiterentwicklung einer Geschichte.

Und wie kamt ihr zu den Buchkindern?
Birgit: Ich kam etwa zweieinhalb Jahre nach der Gründung dazu. Meine Arbeit als Landschaftsarchitektin hat mich geprägt, aber ich stieß auch an Grenzen der Gestaltungsmöglichkeiten. Ich war in größeren Planungszusammenhängen unterwegs, mit dem Anliegen Stadtentwicklung und Landschaftsplanung umsetzen zu wollen. Diese Prozesse waren mir aber zu langatmig und zu bürokratisch. Ich wollte mit meiner Herzenslust direkter wirken, die Konsequenzen meines Handelns unmittelbarer spüren und habe diese Möglichkeit bei den Buchkindern gesehen. Das war 2003.

Hast du denn vor der Landschaftsarchitektur schon mit Büchern, mit der Buchherstellung zu tun gehabt?
Direkt nach der Schule habe ich ein Jahr lang in einer Druckerei gearbeitet. Das war ein kleiner Familienbetrieb mit einer alten Tiegeldruckpresse, wie sie jetzt auch hier bei uns in der Werkstatt steht. Das war meine erste Arbeitserfahrung, Geruch von Druckerschwärze, der Umgang mit Schrift, Grafik und Gestaltung. Es entstand der Wunsch, Kunst zu studieren, davor eine Schriftsetzer- oder Fotografenlehre. Das war für mich spannend. Das Leben ist dann anders verlaufen, ich habe mich für etwas handfesteres entschieden – dachte ich damals.

Aber wie kamst du dann konkret zu den Buchkindern?
Ich habe die Buchkinder auf der Buchmesse kennengelernt. Die Buchmesse war für mich schon über Jahre ein Termin, den ich mir im Kalender freihielt. Es hat mich dann nicht losgelassen. Ich habe schnell gemerkt, dass ich mich voll einbringen möchte, da mir die Steuerungsmöglichkeiten im Rahmen des Ehrenamtlichen nicht ausreichten. Ab 2003 habe ich dann die ganze Entwicklung mit voran getrieben.

Es geht darum, die Arbeitswelt mit sinnhaften Beschäftigungen zu durchdringen.

Das ist dann nicht mehr ehrenamtlich?
Birgit: Das ist eine wirklich schöne Entwicklung. Das Ehrenamt und die öffentlich geförderten Maßnahmen der Beschäftigungsförderung wie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), Arbeitsgelegenheitsmaßnahmen (AGH) haben die Entwicklung der Buchkinderarbeit unterstützt und ermöglicht.

Sven: Es geht ja gerade darum, die Arbeitswelt mit sinnhaften Beschäftigungen zu durchdringen. Man stürzt sich dabei immer so gern auf das Ehrenamt, und was dort geleistet wird, das verdient auch entsprechende Würdigung. Aber unser Ansatz ist eigentlich gerade der, hier Menschen zu versammeln, die daraus ihren Lebensunterhalt verdienen können. Natürlich ist diese Arbeit in der Fülle und in der Qualität nur mit großen Engagement aller Beteiligten zu bewerkstelligen, dazu gehört selbstverständlich auch das Ehrenamt.

Sven, bist du von Anfang an bei den Buchkindern dabei?
Sven: Nein, ich bin 2008 auch als Quereinsteiger dazugekommen. Auch aus dieser Frage, wie gestalten wir uns die Stadt? Ich war engagiert in dem Stadtentwicklungsprojekt rund um die Josephstraße. Birgit und ich hatten uns in Workshops kennengelernt, in denen die verschiedenen Brachen sondiert wurden. Ich war damals daran interessiert, eine Brache für ein Wohnprojekt zu finden. Und dann haben wir uns witzigerweise um das heruntergekommenste Gebäude mehr oder weniger gestritten, eine Brandruine.

Birgit: Wir haben uns für das gleiche Gebäude interessiert, aber aus einer unterschiedlichen Intention heraus.

Sven: Die Brandruine, das Hinterhaus der Josephstraße 13, war damals eigentlich fast nur noch ein Steinhaufen. Ich dachte, daraus kann ein Wohnprojekt entstehen und Birgit dachte, das wird ein Kindergarten. Wir waren uns dann schnell einig, dass es albern sei, sich bei den Möglichkeiten die es hier gab, um ein Gebäude in einem solch schlechten Zustand gleichzeitig zu bemühen. Kurze Zeit später hat sich dann Bedarf nach jemanden ergeben, der den Entstehungsprozess des BuchKindergartens begleitet und koordiniert. So sind wir eigentlich zusammen gekommen.

Schild mit dem Titel 'Notausgang' in der Buchkinderwerkstatt in Leipzig Lindenau.
Eine Zeichung trocknet in der Buchkinderwerkstatt in Leipzig Lindenau.
Aus einer Kinderzeichnung wurde ein reales Objekt.
Druckbögen trocknen in der Werkstatt der Buchkinder in Leipzig.

Ist die Arbeit im Kindergarten die gleiche?
Birgit: Die Arbeit im Kindergarten hat einen anderen Charakter. Wir sind im Entwicklungsprozess mit dem gesamten Team, die über Jahre erprobte Buchkindermethode auf den Bereich der frühkindlichen Bildung und auf alle Bereiche eines Kindergartenalltages zu übertragen.

Was ist die Buchkindermethode?
Sven: Das Ernstnehmen der Kinder vom ersten Moment. Die Kinder spüren es, wenn sie mit ihrer Persönlichkeit ernst genommen werden und die Bilder, die sie in ihrem Kopf haben, aufgegriffen und weiterentwickelt werden. Im Prinzip gelingt uns in der Kursarbeit etwas, wonach sich viele Schulen sehnen: es gelingt uns, dass sich die Kinder freiwillig an einer Entwicklung beteiligen und das Lernen spielerisch geschieht. Mich hat von Anfang an fasziniert, den Kindern eine Möglichkeit an die Hand zu geben, ihren inneren Bildern einen Ausdruck zu verleihen. Das verstehe ich unter der Buchkindermethode.

UIB: Das ist es, warum die Arbeit funktioniert. Die Kinder ergreifen von sich heraus Initiative, freiwillig. Das Prinzip der Freiwilligkeit ist sehr wichtig. Kinder wachsen häufig mit so vielen Anforderungen an sie auf. Es gibt kaum noch Spielraum, eigene Erfahrungen zu machen, aus den eigenen Fehlern zu lernen.

Wie entlockt ihr diese Bilder, wenn die Kinder zum ersten Mal zu euch kommen? Hat jedes Kind schon Bilder im Kopf?
Sven: Ihr habt ja gesehen, es gibt einen großen Tisch mit vielen Utensilien, an dem Erwachsene und Kinder gemeinsam sitzen. Das ist anregend für die Kinder, die dann auch einen Stift in die Hand nehmen möchten.

Birgit: Kinder nehmen die Atmosphäre auf und orientieren sich an den Anderen. Es passiert viel über Nachahmung. Und das Ernstnehmen der Kinder bedeutet auch, dass wir nachfragen und die Kinder erzählen lassen, was denn auf ihrem Bild passiert. Sie erzählen und wir fragen nach. Was an einem Nachmittag entsteht, wird gesammelt und in den Buchkinderkisten aufbewahrt, auf denen die Namen der jeweiligen Kinder stehen.

Schreibt ihr mit, wenn euch die Kinder von ihren Bilden und Geschichten erzählen?
Birgit: Ja, bei denen, die noch nicht schreiben können. Kinder sind es oft gar nicht gewohnt, ernstgenommen zu werden. Wenn man an diesem Punkt ansetzt, entstehen wundersame Dinge.

Jeder Mensch und jedes Kind hat eine ganz individuelle Sicht auf die Welt und man darf nicht den Fehler machen, die Geschichten für die Kinder erzählen zu wollen.
Mehrere Bücher stehen in einem Regal in der Werkstatt der Buchinder.

Hat jedes Kind viele Geschichten im Kopf?
Sven
: Natürlich. Man muss das Vertrauen haben, nicht vorgefertigte Schablonen darüberzusetzen. Und auch traditionelle Erziehungsmethoden und Erziehungskonzepte muss man weglassen. Jeder Mensch und jedes Kind hat eine ganz individuelle Sicht auf die Welt und man darf nicht den Fehler machen, die Geschichten für die Kinder erzählen zu wollen. Alle Bilder werden gesammelt und sortiert und daraus formen wir mit dem Kind zusammen ein Buch, das in einer Auflage von zehn oder zwanzig Stück erscheint. Einen solchen Prozess, von der eigenen Idee zur finalen Umsetzung, erlebt doch kaum ein Erwachsener. Das ist doch Wahnsinn. Und das erleben die Kinder ab vier Jahren, wenn sie bei uns sind.

Beschilderung der Herren-Toilette in der Werkstatt der Buchkinder Leipzig.
Beschriftung in der Buchkinderwerkstatt. Während der Wunsch nach einer Erleichterung hier durchaus zu erahnen ist …
Beschilderung der Damen-Toilette in der Werkstatt der Buchkinder Leipzig.
… ist die Dringlichkeit in diesem Fall nicht mehr zu ignorieren.

Bis zu welchem Alter geht das?
Birgit: Wir arbeiten mit Kindern und Jugendlichen im Alter von 4 bis 18 Jahren und wir bieten auch Seminare für Erwachsene an.

Möchten Erwachsene auch Geschichten erzählen?
Birgit Sie interessieren sich aus unterschiedlichsten Gründen für diese Arbeit. Viele wollen die Buchkindermethode für ihre Kinder auch in anderen Städten anwenden. In den letzten Jahren ist so ein großes Netzwerk entstanden. Die Seminare sind sehr praxisorientiert, da auch Erwachsene über das eigene Erleben am besten lernen. Viele sind es nicht mehr gewohnt, so nah an sich selbst und kreativ zu sein. Die Buchkinderarbeit hat keine Altersbeschränkung.

Sven: Wobei wir schon noch Entwicklungspotential sehen, bei den Mädchen und Jungen, die in die Pubertät kommen. Da sind andere Umsetzungsmöglichkeiten gefragt.

Birgit: Das sind andere Rahmenbedingungen. Kleinere Kinder arbeiten meist in Gruppen. Sie stecken ihre Köpfe zusammen und dann wird produziert. Bei älteren Kindern spielt die Persönlichkeit eine größere Rolle. Es ist dann schwieriger, eine Gruppe zusammenzuhalten. Auch haben sie eine andere Herangehensweise an ihre Geschichten und die Ansprüche an sich selbst sind größer. Dieses ungefilterte, direkte Produzieren findet dann nicht mehr statt.

Sven: Die Person steht in einer anderen Zwiesprache. Das was bei den Kindern ganz unvermittelt und direkt herauskommt, wird immer stärker reflektiert. Es ist dann ein langer Weg, um später, zum Beispiel als Künstler, wieder unmittelbar an die inneren Bilder anknüpfen zu können.

Greift ihr dann ein?
Birgit: Wir begleiten den Prozess. Und die Kinder lesen sich ihre Texte auch gegenseitig vor, korrigieren untereinander. Das machen sie auch viel direkter, als das Erwachsene tun und auch tun sollten. Das gegenseitige erhören und zuhören ist Korrektiv und Inspirationsquelle der Kinder zugleich.

Und dadurch verändern sich die Geschichten?
Birgit: Ja, es werden Entwicklungen in Gang gesetzt. Und auch über die bildnerische Umsetzung. Es ist für uns eine ganz wichtige Regel, die Wechselwirkung von Bild und Text zu beherzigen. Die jüngeren Kinder drücken sich über Bilder aus, die sie dann beschreiben. Es folgen weitere Bilder und Sätze. Es entstehen Text-Bild-Folgen, woraus sich dann später eine ganze Geschichte entwickelt. Die älteren sind eher textorientiert. Bildermalen ist nicht mehr so angesagt, das ist uncool. Wenn es uns Erwachsenen in der Begleitung des Arbeitsprozesses gelingt, sie dahin zu führen, das beschriebene wiederum bildnerisch auszudrücken, wird dies auch die Geschichte prägen und Klarheit schaffen.

Wir hatten eine Gruppe von 12- und 13- jährigen, die nicht mehr zeichnen wollten. Ihre Geschichte war kompliziert und unübersichtlich. Die haben dann mit Knetfiguren Szenen nachgestellt. Über diese Form der Darstellung haben sie selbst gemerkt, dass Textpassagen nicht schlüssig sind und anschließend ihre Geschichte entsprechend überarbeitet. Es ist toll, wenn so etwas passiert. Dann funktioniert dieses Text-Bild-Prinzip auch in der umgekehrten Reihenfolge.

Gibt es Trends, gibt es Phasen, in denen bestimmte Dinge immer wieder auftauchen?
Birgit: Was sich auf jeden Fall spiegelt, ist was sich außen ereignet, da Kinder über das schreiben, was sie erleben. Natürlich bleibt auch Prinzessin Lillifee nicht außen vor. Tiere als Identifikationsfiguren kommen oft vor. Die Charaktere, die in der Literatur der Kinder auftauchen, spielen natürlich ein Rolle, gehen dann aber eigene Wege …

Sven Sie beseelen die Geschichte. Egal, was sie beschreiben.

Birgit: Eine Geschichte hieß „der Aussichtsturm des Menschengärtners”. Hier stellt sich ein Kind vor, dass Menschen wie Samen in die Erde gepflanzt werden. Man muss sie gießen und pflegen und irgendwann werden sie geerntet und auf dem Markt verkauft. Was nicht verkauft wird, das muss man gut über den Winter bringen. Das Kind hatte sich viel in den Nachbarschaftsgärten aufgehalten. So funktionieren die Geschichten. Kinder erleben ihr Umfeld und so erzählen sie ihre Geschichten.

Sven: Das muss auch nicht immer nur positiv sein. Manchmal kommen auch Kinder zu uns, die in schwierigen sozialen Verhältnissen leben. Das spiegelt sich auch in den Geschichten wider. Diese Geschichten müssen wir nicht veröffentlichen. Aber für die Kinder ist es wichtig, diesen Prozess zu durchlaufen. Die ganze Märchenwelt spielt auch eine Rolle, Tod und Verlust, Bosheit, auch das sind Aspekte der Geschichten.

Es geht uns im Grunde darum, einen Erfahrungsraum zur Verfügung zu stellen, in dem sich Kinder selbst ausprobieren können, und lernen auf ihre Möglichkeiten zu setzen, ihrem inneren Kompass zu folgen.
Pappfigur in der Buchkinderwerkstatt.
Ein sehr aufwendig gestalteter Umschlag eine Buches.
Detailaufnahme einer Figur, die ein Haus auf dem Rücken trägt.
Birgit Schulze-Wehninck und Sven Riemer in der Buchkinderwerkstatt in Leipzig Lindenau.

Gibt es schon die ersten Buchkinder, die kreative Studiengänge gewählt haben?
Sven: Das ist ein grundsätzliches Missverständnis. Der Vordergrund liegt vor allem in der Persönlichkeitsentwicklung. Oder der Befähigung sich auszudrücken und dann wirklich teilzuhaben am demokratischen Gestaltungsprozess. Sich selbst und seiner eigenen Wahrnehmung zu vertrauen.

Birgit: Wobei es nicht ausgeschlossen ist, dass ein Buchkind dann auch in Babelsberg landet.

Sven: Ein ehemaliges Buchkind hat jetzt einen von fünf freien Plätzen im Bereich Animation an der Filmhochschule in Babelsberg anbekommen - von 3000 Bewerbern.

Birgit: Es geht uns im Grunde darum, einen Erfahrungsraum zur Verfügung zu stellen, in dem sich Kinder selbst ausprobieren können, und lernen auf ihre Möglichkeiten zu setzen, ihrem inneren Kompass zu folgen. Es ist dann naheliegend, auch in künstlerischen Berufen zu landen. Aber es geht vor allem darum, sich selbst nicht zu verlieren. Das ist eine große Herausforderung in einer vielfältig aufgestellten Gesellschaft.

Wie lange sind die Kinder bei euch? Wie lange dauert es, bis ein Buch entstanden ist?
Birgit: Die Kinder sind oft über Jahre bei uns. Diesen Zeitpunkt bestimmen die Kinder selbst. Wir haben kein Kurssystem, dass sich an Ferienzeiten orientiert. Das war nicht so einfach, das als Struktur durchzusetzen, weil die Rahmenbedingungen, der Projektförderung sich nicht auf ein kontinuierliches Angebot beziehen. Aber das war uns wichtig. Die Kinder finden hier ein verlässliches Angebot. Schreiben an ihren Ideen, das kann nach einem halben Jahr abgeschlossen sein, das kann aber auch über zwei Jahre gehen. Es kann auch sein, dass sich nach dem ersten Buchprojekt eine zweites, drittes, viertes anschliessen. Oder dann steht Fussball an oder etwas anderes und sie hören dann auf.

Sven Riemer übernimmt die Bauherrenvertretung/Projektkoordination Bau der Buchkinder Leipzig.
Sven Riemer übernimmt die Bauherrenvertretung/Projektkoordination Bau der Buchkinder Leipzig.

Gibt es Kinder, die aufhören, ohne Buchprojekt realisiert zu haben?
Birgit: Das soll nicht passieren. Es liegt in unserer Verantwortung zu schauen, dass die Kinder einen Abschluss finden. Das ist uns ein Anliegen.

Arbeitet ihr noch selbst in den Kursen mit?
Sven: Nein. Wir finden gefallen daran, die Prozesse zu steuern. Wir haben eine Wandlung durchlaufen. Es fing ehrenamtlich an und jetzt haben wir die Verantwortung für vierzig Leute.

Birgit: Die Arbeit hat sich verändert. Die Strukturen haben sich verändert. Sich selber mit seiner Unternehmung zu entwickeln, ist eine wichtige Voraussetzung und Möglichkeit zugleich. Wir halten die Buchkinderarbeit lebendig, setzen Impulse. Wir verstehen uns als Prozessbegleiter.

Sven: Oder Kanalreiniger. Wenn wir bemerken, dass etwas gegen die Idee der Buchkindermethode läuft, müssen wir etwas verändern. Man muss sich um eine Übersicht bemühen und Dinge loslassen können. Es ist auch ein schmerzhafter Prozess, nicht mehr in den Genuss einer gespiegelten Neugierde zu kommen, die man bei dem direkten Kontakt mit Kindern erfährt.

Birgit: Ein ganz wichtiger Aspekt des Erfolgs dieser Arbeit liegt in der Einfachheit. Dieses Begleiten oder auch Kanalreinigen bedeutet, die Vielseitigkeit der Arbeit auf einen Punkt zusammenzuführen und deren wesentliches Merkmal, die Quelle, nicht aus den Augen zu verlieren. Wir haben neben unseren Angestellten viele Studenten, die hier ihr Praktikum absolvieren und ehrenamtlich Beschäftigte, es gibt den Kindergarten und die freie Kursarbeit im Basisverein. Da ist sehr viel Bewegung. Es müssen viele Dinge entschieden werden und wir versuchen dabei alle Mitarbeiter mitzunehmen, damit diese Entscheidungen auch nachvollzogen werden können.

Sven: Jeder sollte in seinem Verantwortungsbereich aus seiner inneren Haltung heraus Entscheidungen begründen können. Wir versuchen ein künstlerisches Gebilde zu formen, auch im zwischenmenschlichen Bereich.

Birgit: Das hat sich entwickelt. Wie geht man mit so vielen Menschen um? Entwickelt man selbst Konzepte und gibt diese dann an die Mitarbeiter weiter? Oder versucht man Verantwortungsbereiche zu benennen und jeden einzelnen in die Lage zu versetzen, diese Verantwortung wahrzunehmen? Das geht nur, wenn man sich auf ein gemeinsames Bild, eine gemeinsame Haltung berufen kann. Wenn uns das gelingt, dann haben wir ein stabiles und gleichzeitig bewegliches System. Daran arbeiten wir.

Sven: Eigentlich ist die Buchkindermethodik auch in der Mitarbeiterstruktur unser Wegweiser. Auch die Persönlichkeitsentwicklung jedes Einzelnen versuchen wir in unserer Unternehmenskultur miteinfließen zu lassen und diese gemeinsam weiterzuentwickeln.

Den Wahnsinn, der in so einer Entwicklung auf einen einstürzt, den kann man nur zu zweit aushalten.
Detailaufnahme eines Buchtitels.
Aufnahme eines Regals im Lagerbereich der Buchkinder Leipzig.

Wie lange hat es gedauert, die Idee des Buchkindergartens umzusetzen?
Birgit: Die Idee ist aus der langjährigen Erfahrung der Buchkinderarbeit entstanden und liegt schon Jahre zurück. Wir verstehen Buchkinderarbeit als Bildungsarbeit, die möglichst frei und für alle Kinder – unabhängig von ihrem sozialen Umfeld, zugänglich sein sollte. Hier kamen wir mit dem freien Kurssystem an den Nachmittagen an Grenzen. Denn es ist egal, welchen Kursbeitrag man fordert. Man begibt sich in Abhängigkeit der Eltern, die ihren Kindern über die Schule hinaus Bildung angedeihen lassen möchten. Wir wollten aber den Kindern eine direkte Möglichkeit geben, mitzumachen. Daher sind wir dorthin gegangen, wo die Kinder sind. In die Schulen und Kindergärten. Über die Kooperationen mit Kindergärten haben wir erfahren, wie fruchtbar diese Arbeit schon in frühen Jahren ist.

Die Stadt Leipzig hatte damals die Idee mit den Kindergartenplätzen auch eine Vielfalt an Bildungsangeboten schaffen zu wollen. Die Stadt setzte auf Kooperationen. Wir haben uns beworben und das Jugendamt hat uns als freien Träger unterstützt, mit unserem eigenen Bildungsansatz für den frühkindlichen Bereich den ersten BuchKindergarten umzusetzen. Das war 2006. Es hieß, es brauche dreierlei Dinge: ein pädagogisches Konzept, die Aufnahme in den Bedarfsplan der Stadt Leipzig und ein geeignetes Grundstück. Ganz so kompakt lässt sich das Aufgabenspektrum in der Nachschau nicht zusammenfassen. Aber das ist ein eigenes – vor allem fachämterübergreifendes Thema. Die Eröffnung war dann 2013.

Ihr seid dann beide als Geschäftsführer für die Buchkinder und den Kindergarten gleichermassen zuständig?
Sven: Den Wahnsinn, der in so einer Entwicklung auf einen einstürzt, den kann man nur zu zweit aushalten. Wir versuchen in einen gemeinsamen Gedankenraum einzutauchen und die Komplexität dieser Aufgabenstellung gemeinsam abzusprechen.

Birgit: Jeder schaut mit einem anderen Blick auf die einzelnen Aspekte. Wenn man am Ende eines komplexen Prozesses etwas herausgearbeitet hat, ist es anders als hätte man das allein getan. Wir haben viele Aufgabenfelder, die wir von verschiedenen Seiten aus zu durchdringen versuchen, die wir reflektieren und korrigieren. Das setzt natürlich auch ein großes Vertrauen zueinander voraus.

Sven: Und das erzeugt eine Stärke. Natürlich nehmen wir in einem Gespräch, in dem wir zu zweit waren, mehr wahr, als alleine und es gibt einem auch eine Sicherheit bei den vielen Entscheidungen, die man jeden Tag trifft. Wir sprechen die Entscheidungen ab und gewinnen dadurch noch einmal einen Abstand. Es dauert dann länger, aber in der Reflektion ist die Entscheidung dann einfach sicherer und hat mehr Kraft.

Ändert der Buchkindergarten die Abläufe und Strukturen im Verein?
Birgit: Wir haben zwei Wirkungsfelder. Zum einen den Basisverein, aus ihm ist die Idee des Kindergartens hervorgegangen. Hier arbeiten wir im Bereich des informellen, mit einem selbsternannten Bildungsauftrag, wenn man so will. Die Finanzierungsquellen sind vielfältig und frei zu akquirieren. Der BuchKindergarten ist ein eigenes Arbeitsfeld. Mit der Aufnahme des laufenden Betriebs im März 2013 hat er völlig andere Ausgangsbedingungen. Dadurch, dass wir eine kommunale Pflichtaufgabe umsetzen, ist auch die Grundfinanzierung der Personal- und Sachkosten gewährleistet. Naja, der sächsische Personalschlüssel schnürrt ein enges Korsett …, man hat immer zu wenig …

Mit diesen zwei Feldern stossen unterschiedliche Strukturen aufeinander, die sich dennoch durchdringen sollen. Für die Umsetzung unseres Bildungskonzeptes braucht es eine inhaltliche Verzahnung, zwischen den Erziehern im Kindergarten und den Werkpädagogen im Basisverein. Wichtiger Zentralisationspunkt ist die Buchwerkstatt im Kindergarten. Es geht darum, das Tagesgeschehen aus der Wahrnehmung am Kind heraus zu gestalten und in der Zusammenarbeit etwas Fruchtbares herauszubilden.

Sven: Es geht bei diesen unterschiedlichen Gebilden darum, dass sie sich sinnvoll ergänzen und auch voneinander profitieren. Man muss überlegen, wie sinnvolle Synergieeffekte entstehen können.

Birgit: Das ist Annäherungsprozess. Wir möchten ein Klima schaffen, in dem beide Seiten Lust haben voneinander zu lernen.

Zahlreiche Bücher stapeln sich auf einem Regal.
Ein Buchkind liesst ihren Textentwurf für eine Geschichte.
Buchkinder und Betreuer besprechen eine Geschichte.
Postkarte an einem Regal der Buchkinder Leipzig.

Hattet ihr Einfluss auf die Wahl der Erzieherinnen und Erzieher?
Birgit: Ja hatten wir. Wir haben alle 17 Erzieherinnen und Erzieher in Gruppen- bewerbungsverfahren ausgewählt.

Sven: Auf jede freie Stelle kamen vier Bewerber. Viele haben sich für eine Mitarbeit interessiert. Wir hatten sehr schöne Gruppeninterviews.

Das heisst, ihr habt mehrere Bewerber gleichzeitig interviewt? Wie seid ihr das angegangen?
Birgit: Es gab Vorstellungsrunden, Diskussionsrunden, kleinere Aufgaben. Wir haben eine tolle Resonanz bekommen, auch von Leuten, die wir nicht eingestellt haben. Wir haben E-Mails bekommen, in denen uns gedankt wurde: Es hätte viel gebracht, es sei ein toller Tag gewesen, es sei sehr bereichernd gewesen. Wir waren uns da auch selbst unsicher, weil man ja die mögliche Konkurrenz um sich versammelt. Von den acht oder zehn Leuten haben wir dann nur vier eingestellt. Aber es hatte eine unheimliche Qualität, den Tag so miteinander zu verbringen. Unabhängig von dem Fachwissen war ablesbar, wie man miteinander umgeht, wie man miteinander ins Gespräch kommt, wie man Situationen löst. Auch, wie Persönlichkeitsstrukturen zusammenpassen. Wir haben damit gute Erfahrungen gemacht, was sich auch in der Resonanz gespiegelt hat.

Die Buchmessen Frankfurt und Leipzig sind Höhepunkte für die Kinder, wo sie ihre Bücher vorlesen und präsentieren können.

Zurück zur Kursarbeit. Begleiten die Kinder den kompletten Prozess von der Entstehung des ersten Bildes bis zum Druck, bis zur Bindung? Wollen Kinder auch Bücher machen, die zwei Meter breit sind?
Birgit: Das ist ein Aushandlungsprozess. Wir haben auch sehr große Bücher. Die Kinder begleiten den ganzen Prozess. Wenn die Buchkinderkiste eine gewisse Fülle erreicht hat, wird das Material gesichtet. Der Mitarbeiter, der das Kind begleitet, gibt dann schon den Impuls die Geschichte zu vollenden. Es wird zusammengestellt, das Layout entworfen, Text und Bild zusammengeführt. Und dann entsteht ein Dummy, den man durchblättern kann. Manchmal sind es auch sogenannte Kleinigkeiten, was den Satz oder die Grafik angeht. Dann muss das Bild einen Zentimeter zur Seite rücken.

Sven: Auch da kann man wieder auf die Geschichte zurückgreifen, auf deren Inhalt. Wir fragen, was sie damit gemeint haben. Wenn eine Geschichte es unbedingt braucht, dann ändert man das auch.

Birgit: Es gibt natürlich auch einen sehr praktischen Hintergrund. Wenn ich einen Linoldruck habe der groß ist, dann brauche ich auch ein Buch, das groß ist. Wenn die Druckplatte klein ist, dann stellt sich die Frage, ob das Buch so viel größer sein muss. Das sind Notwendigkeiten, die sich vom Ausgangsmaterial ergeben. Es gibt auch handwerkliche Regeln, in die die Kinder eingeführt werden. Sie erleben ja auch hier eine ausgebildete Buchbinderin, einen Drucker. Sie erleben Menschen in ihren Professionen. Am Ende steht das fertige Buch, von dem eine Auflage erstellt wird. Das übernehmen dann die Erwachsenen. Die Kinder können natürlich Einblick nehmen. Aber wir erwarten nicht, dass sie mehrere Stunden und Tage anwesend sind, die für die Herstellung notwendig sind. Das passiert natürlich auch einmal, je nach Alter und Lust. Aber durch den offenen Werkstattcharakter erleben sie das alle mal. Die können selbst mit Hand anlegen oder auch nur schauen.

Die Buchmessen Frankfurt und Leipzig sind natürlich Höhepunkte für die Kinder, wo sie ihre Bücher vorlesen und präsentieren können. Die Bilder werden mit einem Projektor an die Wand geworfen, so dass auch der Außenstehende eine Möglichkeit hat, nachzuvollziehen, was hier ausgedrückt werden will. Das erfordert natürlich auch Mut, weil es eigene Geschichten sind. Das sind wichtige Momente in den Biografien der Kinder und wichtige Lernprozesse.

Im Grunde erleben sie den gesamten Buchprozess, die ganze Entstehung von der Illustration bis hin zum Verkauf. Dieser Prozess ist ja in unserer professionellen Welt ziemlich zerrupft, der Illustrator lebt in einer anderen Stadt als der Autor, die Herstellung ist wieder woanders. Bei uns findet das alles unter einem Dach statt.

Sven: Die Kinder sind auf der Messe am Verkaufsstand auch ganz begeistert, wenn sie ihre eigenen Bücher verkaufen. Sie rechnen den Verkaufsbetrag zusammen und geben Geld heraus.

Detailaufnahme eines Buchumschlags.
Ein Buchkind arbeitet an seinen Zeichnungen in der Werkstatt der Buchkinder Leipzig.

Bekommen die Kinder einen Anteil?
Birgit: Jedes Kind erhält sein eigenes Buch, originalgrafisch und von Hand gebunden - frisch aus der Manufaktur. Die kleinen Auflagen werden über die Buchmessen, Märkte und unseren Onlineshop im gesamten deutschsprachigen Raum präsentiert und angeboten. Eine wirksamere Form der Wertschätzung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben kann man sich wohl kaum vorstellen. Wir würden den Kindern darüber hinaus gern einen finanziellen Anteil geben, wenn wir dazu in der Lage wären. Aber das ist völlig absurd. Die Einnahmen aus dem Buchverkauf tragen dazu bei, anteilig Kosten im Rahmen der Buchherstellung mit abzudecken. Der Aufwand ist jedoch wesentlich höher, als er sich im Preis widerspiegeln kann. Wir agieren als gemeinnütziger Verein der sich der Bildungsarbeit verschrieben hat. Um das zu organisieren, betreiben wir einen hohen Aufwand.

Manche Bücher sind mehr nachgefragt als andere. Dann redet man auch über solche Ungerechtigkeiten, die das Leben hervorruft. Das Leben ist nicht nur gerecht. Das ist natürlich ein spannendes Thema und sehr viel lebensnaher, als nur eine gute oder schlechte interview zu diskutieren. Wie wird die eigene Geschichte bewertet und was bedeutet das? Bedeutet eine größere Auflage, dass das Buch die bessere Geschichte hat? Man kann das kritisch hinterfragen. Da sind die Kinder in der Gesprächskultur auch sehr gut.

Sven: Aber dass sie Rahmenbedingungen vorfinden, die Möglichkeit eine eigene Geschichte bis zum fertigen Buch auf der Buchmesse zu bringen, davon träumen doch viele Erwachsene. Wenn wir es ermöglichen, dass wir Kindergedanken so gut präsentieren, dass sie auch von Erwachsenen wahrgenommen werden, ist das doch toll.

Postkarten in einem Karton im Lager der Buchkinder.

Wie hoch ist die durchschnittliche Auflage?
Sven: Wir stellen zehn oder zwanzig Exemplare her. Die Geschichte steht im Vordergrund. Es ist auch toll, dass wir so eine museale Ausstattung und Technik haben und benutzen und damit so ein modernes Bildungskonzept umsetzen. Das ist das wirklich Spannende. Man betrachtet die Maschinen nicht in einem Museum, sondern erlebt sie in einem eigenem, lebendigen Kontext. Wie ist der Buchdruck entstanden, wie ist der Werdegang? Was die Menschheit zu Gutenbergs Zeiten erfahren hat, das erfahren die Kinder hier ganz beiläufig. Sie haben dann eine andere Sicherheit, sich zurechtzufinden in der ganzen elektronischen Medienwelt. Ich glaube, dass dies ein anderes Grundverständnis vermittelt.

Birgit: Ein vierjähriges Kind erklärt sich die (Maschinen-)Welt anders als ein Zwölfjähriger oder als ein erwachsener und lebenserfahrener Mensch. Das Kind beseelt die Maschine mit seinen eigenen Vorstellungen. Diese Bilder zu entdecken ist eine große Sache. Davon können wir Erwachsenen viel lernen.

Hier entsteht wirklicher Austausch. Wir sind überzeugt, dass es sehr prägend ist, diese künstlerisch-handwerklichen Prozesse zu erleben. Ein bisschen wollen wir das nun erforschen: Einmal jährlich geben wir den Buchkinderbrief heraus. Hier eröffnen wir eine Reihe, wo wir genauer hinschauen: Was ist aus ehemaligen Buchkindern geworden? Wie sind diese in der Welt unterwegs? Die Buchkindergeschichte entlässt mittlerweile die ersten Buchkindererwachsenen, die ihr eigenes Leben aufbauen und gestalten.

Info

Birgit Schulze Wehninck studierte Landespflege und Europäische Urbanistik und kam 2003 zu den Buchkindern. Sven Riemer hat Bildende Kunst studiert und ist seit 2008 bei den Buchkindern. Zusammen kümmern sie sich als Vorstand um die Buchkinder Werkstatt und den Buchkindergarten.

Credits